Erwachsene wissen, wie Kinder Architektur und Raum wahrnehmen. Meinen sie. Aber seien wir ehrlich: Viele haben doch verlernt, wie Kinder zu denken. Stattdessen machen sich Helikoptereltern Sorgen um das Wohl der Kleinen, lassen sie kaum aus den Augen und fordern erhöhte Sicherheitsvorschriften. Ist das Resultat noch Architektur für Kinder? Päivi Kataikko, Gründerin des Vereins „JAS – Jugend Architektur Stadt“, und Dirk E. Haas meinen, dass für Kinder, nicht für Eltern gebaut werden sollte.
Für viele Architekten zählt das „Bauen für Kinder“ zu jenen Aufgaben, die sie mit hoher Motivation angehen: Die sozialen Aspekte der Architektur sind dort besonders offenkundig. Hinzu kommt häufig die persönliche Motivation – etwa als Eltern, die Kindertagesstätten und Schulen als wichtige und prägende Lebensumgebungen für ihre Kinder erkennen.
Investitionsoffensive
Architekten haben derzeit viele Gelegenheiten, „für Kinder“ zu bauen. Gegenwärtig ist der Bedarf an Kindertagesstätten und Schulen enorm hoch. Entsprechend viele Gebäude werden gebaut, saniert oder erweitert. Das hat mehrere Gründe: Sie reichen vom beträchtlichen Investitionsstau im Schulbau über die generell wachsende gesellschaftliche Wertschätzung von Bildung sowie neuen Anforderungen wie Ganztagsbetreuung und Inklusion bis hin zum seit 2013 gültigen Rechtsanspruch auf einen Platz in einer Kindertagesstätte. All das geht einher mit staatlich geförderten Investitionsoffensiven in den Bereichen Bildung und Betreuung. „Bauen für Kinder“ ist derzeit also auch ein ökonomisch wichtiges Handlungsfeld, in dem allerdings sehr viel unter hohem Zeitdruck gebaut wird – schließlich muss der Bedarf jetzt gedeckt werden und nicht erst in zehn Jahren. Dieser Zeitdruck kann jedoch schnell zulasten sorgfältiger Planungs- und Bauprozesse gehen. Bei zeitlich befristeten Förderprogrammen sind Kommunen praktisch dazu gezwungen, möglichst viele Projekte innerhalb kürzester Zeit zu realisieren.
Phase 0
Wichtiger Bestandteil guter Planungsprozesse ist die Einbeziehung der Nutzer – und zwar möglichst frühzeitig. Das heißt: bereits bei der Formulierung der Planungsaufgaben, aber auch in den späteren Planungsphasen, wenn es um die konkreten Entwurfslösungen geht. Oft fehlen nicht nur die Zeit, sondern auch die finanziellen Mittel, um solche vorgeschalteten Planungsprozesse mit den Nutzern durchzuführen. Die HOAI kennt keine „Phase 0“; vielen Architekten fehlt auch die Erfahrung, um zum Beispiel intensive Planungsprozesse mit Kindern und Jugendlichen durchzuführen beziehungsweise deren Ergebnisse in die eigene Entwurfsarbeit zu integrieren. Die Befürchtung, Kinder und Jugendliche würden in solchen Planungsprozessen utopische und letztlich unrealisierbare Ideen einbringen, ist nach wie vor verbreitet. Genauso wie die paternalistische Haltung, aus der heraus eher für als mit Kindern und Jugendlichen geplant wird, denn „wir wissen bereits, wie man für Kinder baut und was gut für sie ist“.
Differenzierte Typologie
Betrachtet man jedoch, wie ausdifferenziert die Bauten für Kinder und Jugendliche mittlerweile sind – von den Kindertagesstätten bis hin zu Schulen und jugendkulturellen Zentren –, dann zeigt dies eindrücklich, dass es durchaus sehr große Unterschiede gibt, wie man mit und für Kinder bauen kann. Es hat unter anderem viel damit zu tun, dass die pädagogischen Konzepte vielfältiger, um nicht zu sagen individueller, werden und damit letztlich auch die entsprechenden Gebäude. Die normierten Standardtypologien, die es in der Geschichte des Schulbaus immer wieder gegeben hat, weichen zunehmend individuelleren Lösungen, die sich aus den spezifischen Anforderungen an eine Schule ergeben. Solche individuellen Lösungen entstehen jedoch nur, wenn auch die Nutzer ihr praktisches Wissen um die konkreten Bedürfnisse der Schulgemeinschaft formulieren und mit einbringen. So entstehen Schulen, die zwar auf herkömmliche Art nach Klassen- und Fachräumen gegliedert, aber anders als in der Vergangenheit stärker in dezentralen Raumgruppen organisiert sind. Denen werden dann dezentrale Aufenthaltsräume für die Schüler und dezentrale Teamstationen für die Lehrer zugeordnet. Oder es entwickeln sich Schulen, die das Prinzip der Klassenräume bereits in räumlich ausdifferenzierte Lernlandschaften transformieren, in denen das Lernen und Unterrichten an unterschiedlichsten Orten und in unterschiedlichsten Lernformen stattfindet. Beides – und alle möglichen Zwischenformen – gibt es heute; insofern ist das Bauen von Schulen (oder auch Kindertagesstätten) eine sehr abwechslungsreiche und sehr individuelle Bauaufgabe, zumal in vielen Fällen nicht der klassische Neubau, sondern Umbauten und Erweiterungen die Regel sind.
Digitalisierung
Mit der fortschreitenden Digitalisierung entstehen zudem ganz neue Möglichkeiten, Lernen und Unterrichten zu organisieren: Beim Modell des „umgedrehten Unterrichts“ (flipped classroom) können zum Beispiel die klassischen Instruktionsphasen im Unterricht durch vorbereitete Videocasts der Lehrer ersetzt werden, die von den Schülern zuhause oder an anderen beliebigen Orten innerhalb und außerhalb der Schule angesehen werden können – und zwar je nach Bedarf beliebig oft. Im Unterricht in der Schule findet dann das gemeinsame Üben statt, und die Lehrer können diese Zeit für die individuelle Beratung und Unterstützung der Schüler beim Bearbeiten der Übungsaufgaben nutzen.
Beste Orte
Kinder und Jugendliche haben häufig sehr klare Vorstellungen davon, wie ihre Schule beziehungsweise bestimmte Bereiche in der Schule organisiert und gestaltet sein sollten. Zwar reproduzieren auch Kinder und Jugendliche ähnlich wie Erwachsene herkömmliche Raumkategorien (Klassenzimmer, Cafeteria, Turnhalle ...) und Raumatmosphären (hell, freundlich, gemütlich ...), aber es fällt ihnen vielfach leichter, sich davon ein Stück weit zu lösen und räumliche Eindrücke auf andere Art miteinander zu kombinieren, sodass sich neue Vorstellungen über die räumlichen und funktionalen Qualitäten von Lernumgebungen entwickeln. Ein Beispiel aus der Praxis: Bei der Neukonzeption einer Grundschule im Ruhrgebiet plädierten die Lehrer und Erzieher zunächst für möglichst klare funktionale Zuordnungen – hier die Lernorte (Klassenzimmer und Differenzierungsräume), dort die Räume für Aufenthalt, Entspannung, Betreuung – und entwickelten eine entsprechende Vorstellung zur Gliederung der Schule. Die Schüler hingegen wünschten sich eher Räume, in denen sowohl Lernen als auch Erholen und Entspannen stattfinden können. Wenn Schüler sich die für sie individuell „besten“ Orte zum Lernen in der Schule aussuchen, dann sind sie häufig über die gesamte Schule und das Außengelände verteilt: Mal ist es die Fensterbank am Ende des Flurs, mal das Sofa im Gruppenraum, die kleine Wiese neben der Turnhalle oder der Fußboden vor dem Bücherregal in der kleinen Schulbibliothek.
Heterogene Präferenzen
Die Präferenzen der Schüler sind demnach sehr heterogen, und sie beschränken sich nicht auf die klassischen Lernräume einer Schule. Manche Kinder lernen am liebsten in großen, andere in kleinen Gruppen. Die einen bevorzugen den Austausch mit Freunden, die anderen suchen eher geschützte Rückzugsorte, an denen sie sich alleine ins Lernen vertiefen können. Zeitgemäße Schulen, die auf diese Vielfältigkeit von Lernwegen und -bedürfnissen ihrer Schüler Rücksicht nehmen und ihnen gute Lernbedingungen bieten möchten, sollten daher wesentlich offener und flexibler organisiert sein als die herkömmliche, nach Klassen- und Fachräumen gegliederte Halbtagsschule der Vergangenheit. Bei der Neukonzeption der oben genannten Grundschule sind solche Präferenzen der Schüler nun in das Nutzungs- und Raumkonzept eingeflossen: Lernen und Erholen sind stärker räumlich miteinander verknüpft. Es entstehen multioptionale Raumgruppen, die den Schülern sowohl im Nahbereich ihres Jahrgangsclusters als auch mit Blick auf das gesamte Schulareal vielfältige Möglichkeiten bieten werden, an unterschiedlichen Orten und in unterschiedlichen Atmosphären zu lernen.
Fragmentierte Raumerfahrung
Kinder sind also keine homogene Zielgruppe. Sie haben sehr unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen und (ästhetische) Präferenzen – auch innerhalb einer Altersgruppe. Ihre Individualität ist nicht weniger ausgeprägt als bei Erwachsenen. Auch die Art und Weise, wie sie sich in ihrem näheren Lebensumfeld bewegen, welche Orte und Räume sie aufsuchen oder meiden, ist weit weniger homogen, als es viele Erwachsene – und eben auch Architekten – annehmen. Eine wichtige Rolle dabei spielt das Elternhaus. Kinder, die in schwierigen Familienverhältnissen aufwachsen und bereits sehr früh viele Dinge für sich selbst organisieren müssen, entwickeln ein anderes Verhältnis zu ihrer Lebensumwelt als jene Kinder, die von ihren Eltern übermäßig behütet werden. Kindern, deren Zeit vor allem von den Eltern organisiert und verplant wird, fehlt häufig die spontane und selbstständige Raumerfahrung. Sie werden von ihren Eltern quer durch die Stadt zur Musikschule, zur Nachhilfe, zum Indoor-Spielplatz, zum Ballett oder zum Judo gebracht. So entsteht ein Puzzle aus inselhaften Orten, das die Kinder nicht als einen zusammenhängenden Raum wahrnehmen können. Anders ist es bei Kindern, die sich ihr unmittelbares Lebensumfeld selbst erschließen und zum Beispiel möglichst früh eigenständig zur Schule oder zum Bolzplatz unterwegs sind. Sie entwickeln schneller ein Gespür für räumliche Zusammenhänge und Qualitäten. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie die Qualitäten ihres Lebensumfelds auch gleich bewerten würden, denn ihre individuellen Bedürfnisse und Interessen unterscheiden sich genauso wenig wie die Interessen und Bedürfnisse in allen anderen Bevölkerungsgruppen.
Beteiligungsprozess als Mehrwert
Mittlerweile wird es zum Glück üblicher, bei der Planung und Gestaltung von kinder- und jugendspezifischen Orten und Einrichtungen Kinder einzubinden. Es dürfte zum Beispiel nur noch wenige Spielplatzplanungen geben, bei denen Kinder und Jugendliche nicht – in welcher Form auch immer – beteiligt werden. Zwar wird häufig angeführt, dass Kinder und Jugendliche, die im Vorfeld von Planungs- und Bauprozessen an Werkstätten oder ähnlichen Veranstaltungen teilnehmen, nicht selten nach der Realisierung von meist mehrjährigen Bauvorhaben selbst nicht zu den Nutzern zählen werden, da sie zwischenzeitlich aus dem entsprechenden Alter herausgewachsen sind. In diesen Fällen agieren Kinder jedoch in den Beteiligungsprozessen gewissermaßen stellvertretend für ihre jeweilige Altersgruppe – die Qualität ihrer Ideen und die Breite ihrer Interessen sind davon nicht berührt, zumal die Beteiligungsprozesse an sich für die Kinder und Jugendlichen bereits einen besonderen Wert haben. Sie werden gefragt, gehört und können Ideen einbringen, sie entwickeln Know-how in Fragen demokratischer und baukultureller Bildung.
Stadt der Kinder
Die Einbeziehung von Kindern und Jugendlichen in Planungsprozesse kann und sollte jedoch nicht auf kinder- und jugendspezifische Orte und Einrichtungen beschränkt bleiben. Kinder und Jugendliche sind Bewohner, nicht nur „Konsumenten“ der Stadt. Sie sind gewissermaßen „Koproduzenten“ des Städtischen, also jener Vielfalt und Urbanität, die das Leben in Städten für alle attraktiv macht. Einige Städte und Gemeinden gehen in jüngster Zeit dazu über, sich explizit zu kinder- und jugendfreundlichen Kommunen entwickeln zu wollen, und legen entsprechende Planungskonzepte vor. Sie haben verstanden, dass Kinder- und Jugendfreundlichkeit ein wichtiges Merkmal für die Qualität des Zusammenlebens in der Stadt ist. Mit Blick auf den interkommunalen Wettbewerb um Einwohner ist Kinder- und Jugendfreundlichkeit zudem ein relevanter Standortfaktor. Solche Entwicklungskonzepte können nicht ohne Beteiligung der entsprechenden Zielgruppen erarbeitet werden. Dabei ist darauf zu achten, dass Kinder und Jugendliche eben nicht nur zu den einschlägigen Themenfeldern (Kindertagesstätten, Schulen, Spiel- und Sportplätze), sondern auch zu Fragen des Wohnungsbaus, des Verkehrs oder der sozialen und kulturellen Ausstattung der Stadt eingebunden werden. Im Grunde genommen ist dies bereits seit den 1970er-Jahren, als die Bürgerbeteiligung im Baugesetzbuch verankert wurde, eine verpflichtende Aufgabe der Kommunen. Die seinerzeit entwickelten Instrumente (Bürgerversammlungen, formelle Offenlegungen von Plänen) sind jedoch für die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen kaum geeignet. Mit der Novellierung des Baugesetzbuches im Jahr 2013 wurden daher Kinder und Jugendliche erstmals explizit als Teil der zu beteiligenden Öffentlichkeit benannt. Für deren Beteiligung müssen nun geeignete Verfahren und Methoden entwickelt und erprobt werden. Auch legen Fördermittelgeber bei Projekten der Städtebauförderung zunehmend Wert auf eine obligatorische Beteiligung von Kindern und Jugendlichen.
Mehr Gebrauchsqualität
Planen mit Kindern und Jugendlichen ist demnach kein Luxus, kein „Nice-to-have“, auch wenn dies in der Planungspraxis häufig so erscheinen mag. Die Probleme liegen zunächst in der „Planung von Planung“, also in der Vorbereitung von Planungsschritten und Planungszeiträumen für ein Vorhaben. Sorgfältige Planungsvorbereitung – unter Einbeziehung der relevanten Nutzergruppen und vor der eigentlichen Entwurfsplanung – benötigt ausreichend Zeit, damit die wesentlichen Grundlagen und Qualitätsziele mit den Beteiligten erarbeitet werden können. Damit einher geht die Frage der Finanzierung: Solange es keine verlässlichen Planungsbudgets für Leistungen wie dieser „Phase 0“ gibt, wird das vorbereitende Planen mit Kindern und Jugendlichen bei entsprechenden Bauaufgaben als zusätzlicher Aufwand häufig die Ausnahme bleiben. Viele Kollegen sind noch unerfahren in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, da dieses Arbeiten teilweise andere Methoden erfordert als die Beteiligung von Erwachsenen. Architekten, die sich dennoch dazu entschließen, profitieren von der kreativen Intelligenz der Kinder und Jugendlichen und ihren manchmal ungewöhnlichen und überraschenden Vorstellungen. Die Planungszeiträume werden meist nur unwesentlich länger; im Gegenzug entstehen räumliche Lösungen, die in der Regel mehr Gebrauchsqualitäten aufweisen.
Autorin: Päivi Kataikko-Grigoleit
ist Partnerin des Büros REFLEX architects_urbanists, Vorsitzende des Vereins JAS – Jugend Architektur Stadt, und seit 2002 wissenschaftliche Angestellte an der Fakultät Raumplanung der TU Dortmund, Fachgebiet Städtebau, Stadtgestaltung und Bauleitplanung. Zuvor war sie in verschiedenen Architekturbüros in Finnland, Schweden, Deutschland und den Niederlanden tätig. Ihre beruflichen Schwerpunkte liegen in den Bereichen Entwerfen, partizipative Planungsprozesse und pädagogische Architektur. Sie ist zertifizierte Schulbauberaterin der Montag Stiftung.
Autor: Dirk E. Haas
ist Partner des Büros REFLEX architects_urbanists mit langjähriger Erfahrung in der formellen und informellen Stadtentwicklungsplanung (weitere Schwerpunkte: Stadterneuerung, pädagogische Architektur, Raumforschung). Zuvor war Dirk E. Haas Research Fellow und Lehrbeauftragter an der TU Dortmund. Er veröffentlicht zu aktuellen Fragen der Stadt- und Raumentwicklung. Für die Montag Stiftung Urbane Räume war er von 2006 bis 2013 als externer Berater und Projektleiter verschiedener Vorhaben im Themenfeld „Pädagogische Architektur“ tätig.