home
Kontakt
Möchten Sie ein mit unseren Produkten realisiertes Projekt einreichen, haben Sie Fragen oder Anregungen? Melden Sie sich über portal@hoermann.de
Abo
Möchten Sie zukünftig alle PORTAL Ausgaben kostenfrei per Post erhalten? Registrieren Sie sich hier.
share
International

Zwischen Identität und Globalisierung

Die Architektur im Nahen, Mittleren und Fernen Osten war viele Jahre lang geprägt von westlichen Einflüssen. Kein Wunder: Viele der einheimischen Architekten haben in Amerika oder Europa studiert. Und viele der prestigeträchtigen Bauten wurden von Architekten aus dem Westen entworfen. Wie sich die Architektur in diesen Ländern in den vergangenen Jahren entwickelt hat, fragen wir vier Architekten vor Ort.

Schlichte, weiße Kubaturen und eine Kuppel, die an arabische Ornamentik erinnert: Die Architektur des Louvre von Jean Nouvel ist herausragend.

VAE: RICHARD WAGNER
„Die  Vereinigten Arabischen Emirate haben sich architektonisch in den vergangenen 20 Jahren vor allem durch ihre zwei Großstädte Dubai und Abu Dhabi international einen Namen gemacht. Beide Städte setzen dabei auf bewährte Urbanisierungsmethoden aus dem 20. sowie auf die besten Technologien des 21. Jahrhunderts. Ihr Ziel: sich zu international prosperierenden globalen Metropolen zu entwickeln.
Und doch gibt es Unterschiede.

Ungezügeltes Wachstum
Dubai hatte zu Beginn des Bau-Booms gerade einmal 850.000 Einwohner. Zunächst wurde eine sogenannte „Kritische Masse“ an Gebäuden erzeugt, um ausreichend Wohn- und Arbeitsflächen für eine neue Generation an jungen, motivierten, internationalen Expatriaten zur Verfügung zu stellen. Regeln? Kaum vorhanden. Gebäude sprossen wie Unkraut aus dem Wüstensand. Hinzu kamen Prestigebauten wie das berühmte 7-Sterne-Hotel Burj Al Arab Jumeirah, um Touristen anzulocken. Es entstanden Wohn- und Bürotürme, höher als die der Skyline von New York, Villenviertel, weitreichender als die der Suburbia von Houston, und Mega-Shopping-Malls, die selbst in China gewaltig erscheinen würden. Schnell wuchs die Bevölkerungszahl der Stadt auf heute rund 3 Millionen. Die Bauaktivität war zu Beginn des Booms größtenteils gesteuert durch das Profitbegehren der Investoren. Sie konnten beinahe machen, was sie wollten. Genehmigungen wurden schnell und unbürokratisch erteilt. Es gab wenige Bauvorschriften, Umweltverträglichkeitsprüfungen oder langwierige Bürger­beteiligungen waren kein Thema. Qualitätsmängel waren die Folge.

Auf in die zweite Runde
Während der großen Wirtschaftskrise zwischen 2009 und 2012 kippte die Berichterstattung über Dubai im Westen ins Negative. Übereifrige Journalisten fielen wie Hyänen über die angeblichen Fehlplanungen der Vereinigten Arabischen Emirate her und schrieben diese als Eintagsfliege ab. Doch mit der Bekanntgabe Dubais als Austragungsort der EXPO 2020 war dies alles kein Thema mehr. Die Krisenjahre wirkten nun eher wie eine kurze Verschnaufpause und Orientierungsphase. Es ging in die zweite Runde der Entwicklung – und nun um einiges nachhaltiger. Man begann stillgelegte Baustellen zu reaktivieren, unvollständige Entwicklungsgebiete um- oder komplett neu zu planen, Infrastruktur besser zu verknüpfen und Baulücken zu füllen. Während man vorher versuchte, auf eine eigene, historisch angehauchte regionale Identität zu bauen, machte sich nun eine allgemeine Offenheit zu moderner, kontemporärer Architektur breit. Anstelle von osmanischen Bogenarkaden und simplen geometrischen Mustern aus der Levante waren nun gerade Linienführung, auskragende Geschossdecken und eine eklektische Auswahl an modernen Materialien für Gebäudehüllen und Interieurs angesagt.

Gestiegener Anspruch
Während Dubai schon immer deutlich mehr auf Geschwindig­keit, Entertainment und das äußere Erscheinungsbild setzte, ging man in der Hauptstadt Abu Dhabi die Dinge gemäßigter an und beobachtete das Nachbar-Emirat zunächst sehr aufmerksam. Es ist hinreichend bekannt, dass das Emirat Abu Dhabi weitaus reicher ist und daher keinen unmittelbaren Zeit- und Erfolgsdruck verspürte, um mit Dubai in einen direkten Wettbewerb zu treten. Durch die Gründung des Urban Planning Councils sowie der Einführung von Estidama – einer lokal angepassten Version des LEED Zertifizierungssystems – wurde dem Thema Nachhaltigkeit hier deutlich mehr Auf­merksamkeit geschenkt. Sein Können zeigte das Emirat dann erstmals 2009 mit dem Bau der Formel-1-Rennstrecke – der teuersten und hochwertigsten ihrer Art. In nur knapp einem Jahr wurde das Projekt errichtet – ohne Abstriche in Sachen Qualität in Kauf nehmen zu müssen.

Die Nicht-Systematik der Kuppel erinnert an eine arabische Medina mit ihrer typischen gebrochenen Lichtstimmung.

Gestiegener Anspruch
Mit der Zeit setzte sich dieser neue Anspruch an hochwertige Architektur in den Vereinigten Arabischen Emiraten durch – von der Planungsleistung bis hin zu den einzelnen Gebäudekomponenten steigerte sich die Qualität deutlich. Investoren und Bauherren haben dazugelernt und wählen Materialien und Produkte viel sorgfältiger aus, wägen ihre Optionen ab, schaffen mehr Wertigkeit. Man sah sich nun auch im direkten Wettbewerb mit großen, internationalen Projekten und wollte in der Folge auch die eine oder andere Architekturikone durch einen Star-Architekten bauen lassen. Das 2017 eröffnete Louvre Museum in Abu Dhabi ist eines der herausragendsten Beispiele dieser neuen Generation moderner Architektur.

Gesteigerte Attraktivität
Aktuell durchlaufen die Vereinigten Arabischen Emirate erneut einen interessanten Wandel, eine Art Reinigungsprozess. Obwohl es zur Zeit wieder einmal so erscheinen mag, als sei die große Wachstumsphase Dubais nun endgültig vorbei, wird wieder strategisch an großen Wohnsiedlungen und Infrastrukturprojekten geplant und gebaut. Ein Schwerpunkt ist die Energiewirtschaft. In diesem Wirtschaftszweig entstehen gerade Solaranlagen und Gasturbinen. Aber auch Kern- und Kohlekraftwerke entstehen, um ausreichend Energie für zukünftige Stadtentwicklung und Wasserentsalzung bereitstellen zu können.

Fusion verschiedener Welten
Die Vereinigten Arabischen Emirate setzen viel Hoffnung auf den Beginn einer neuen Ära der Investitionen und den Zuzug von jungen Menschen aus aller Herren Länder, die in ihrer Heimat keine günstigen Voraussetzungen in Job und Freizeit mehr vorfinden. In einer sich immer stärker vernetzenden Welt ist die Attraktivität dieser modernen und dynamischen Städte der Superlative stark vom Image in den sozialen Medien bestimmt. Es geht immer mehr darum, wer was zu bieten hat. Wer hat die eindrucksvollere Skyline, die coolsten Jobs, das reichhaltigste Freizeitangebot? Und darin hat gerade Dubai die Latte sehr hoch gelegt. Man orientiert sich zwar an den Wachstumsmärkten in Asien und fühlt sich allgemein – was die Ausrichtung und die Entwicklung angeht – stark dem Morgenland verbunden, lässt dabei die Werte des Abendlandes aber nicht außer Acht. Wenn das Experiment gelingt, wird sich hier eine außergewöhnlich offene Fusion verschiedener Welten bilden.“

Autor: Richard Wagner
geboren 1979 in Berlin, DE
hat sich als Architekt und Nachhaltigkeitsenthusiast stets für eine unkonventionelle, multidisziplinäre Arbeitsweise im Design interessiert und legt besonders viel Wert auf eine Synthese aus handwerklichem Können, architektonischer Detailbesessenheit und digitaler Experimentierfreude. Er zog vor mehr als 15 Jahren in die Vereinigten Arabischen Emirate und leitet seit 2014 zusammen mit seinem Partner Dominic Wanders das Büro Wanders Wagner Architects mit einem internationalen Team aus jungen Kreativen. Ursprünglich aus Ost-Berlin stammend, prägten ihn die Wendejahre der deutschen Hauptstadt. Sein Architekturstudium begann 1999 am Bauhaus in Weimar, führte ihn im Jahr 2000 nach Beirut an die AUB, 2002 weiter ans SCI-Arc nach LA bis zum Abschluss 2005 und erneut 2009-2011 zum Master in Umweltwissenschaften an die Vrije Universiteit nach Amsterdam.
www.wanderswagner.com

Richard Wagner

Von gmp Architekten entworfen: Der gleichmäßige Rhythmus der Pfosten sowie die eingeschnittenen Höfe in den Obergeschossen gliedern das Gebäude der Nationalversammlung in Vietnam.

VIETNAM: DUC TRAN CONG
„Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts kamen viele ausländische Architekten nach Vietnam und gewannen fast alle wichtigen Ausschreibungen, was nach der Kolonialzeit, dem Krieg, der anschließenden Teilung des Landes sowie den sowjetischen Einflüssen wie eine vierte Welle der Einflussnahme von außen auf die vietnamesische Architektur wirkte. Sämtliche prestigeträchtigen Bauwerke der jüngeren Geschichte – seien es staatliche, aber auch private Auftraggeber – sind nicht von heimischen Büros entworfen worden. Das spiegelt sich in der Architektursprache wider, die überwiegend international geprägt ist – auch wenn regionale Bezüge in den Grundgedanken dieser Entwürfe zu erkennen sind. Es sind vor allem die jungen Architekten, denen es wichtig ist, diese Verbindungen herzustellen. Oft studieren sie zwar im Ausland, werden sich aber gerade fernab der Heimat ihres kulturellen Erbes bewusst. Sie kommen nach ihrem Abschluss gerne nach Vietnam zurück und wollen die baukulturelle Identität ihres Landes mit moderner Architektur verknüpfen.

Positive Entwicklung
gmp Architekten, für die ich in Hanoi tätig bin, sind sehr früh in Vietnam aktiv geworden. Schon im Jahr 2002 nahm das Büro an der ersten internationalen Ausschreibung für den Bau des Parlaments- und Kongresszentrums teil. Daraus ergaben sich die beiden Projekte „Nationales Konferenzzentrum in Hanoi“ aus dem Jahr 2006 und das 2015 fertiggestellte und in der PORTAL 37 beschriebene Projekt „Vietnamesische Nationalversammlung in Hanoi“. Seither gewann unser Büro mehrere internationale Wettbewerbe in Vietnam. Einige Bauten sind bereits fertiggestellt, andere befinden sich in der Planung. Ich wage zu behaupten, dass gmp Architekten mit diesen Projekten zur architektonischen Entwicklung der vergangenen 20 Jahre positiv beigetragen hat.

Lokale Bezüge
Bei der Durchführung dieser Großprojekte arbeiten wir – und auch andere Großbüros – eng mit lokalen Architekten zusammen. Dadurch gewinnen die heimischen Büros wertvolle Erfahrung mit komplexen Großprojekten und können diese dann bei eigenen Projekten nutzen. Das kommt also deren eigenen Projekten zugute, die oft einen intensiven Bezug zur vietnamesischen Baukultur haben. Dazu zählen unter anderem die Büros von VNCC, CDC oder TWOG. Mich inspirierten aber auch die Projekte der lokalen Architekten wie 1+1>2 von Hoàng Thúc Hào , Vo Trong Nghia Architects oder HPA von Doan Thanh Ha, die sich sehr stark mit dem lokalen Kontext auseinandersetzen. Projekte mit sehr beschränktem Budget und nur mit lokal verfügbaren Materialien zu planen ist ihre große Herausforderung: Als Beispiel sei die besondere Qualität sozialer Wohnungsbau-Architektur genannt. Sie besteht aus dem experimentellen Umgang mit traditionellen Bauweisen und „armen“ Materialien. Durch die kreative Arbeit mit den beschränkten Ressourcen vor Ort entstehen oft nachhaltige und bereichernde Lösungen.“

Der Sitzungssaal der Nationalversammlung Vietnams.

Autor: Duc Tran Cong
geboren 1977 in München, DE
studierte zunächst Architektur an der HAWK in Holzminden und anschließend International Business Management an der Kingston University in London. Nach zwei Jahren praktischer Erfahrung als Architekt schloss er sich 2007 dem international renommierten Büro gmp Architekten an, bei dem er heute als Project und Office Manager in Hanoi, Vietnam, tätig ist.
www.gmp.de

Duc Tran Cong

Prächtig illuminiert: Beinahe scheint es, als schwebe das Dach des Flughafens Mumbai auf einer Schicht aus Licht.

INDIEN: LARA DE ROIJ
„Die indische Architektur hat sich in den vergangenen 20 Jahren – wie das Land selbst – sehr vielfältig entwickelt. Zwei Strömungen möchte ich hervorheben: Zum einen treten Architekten wie Benny Kuriakose, Anupama Kundoo und Dean D’Cruz in die Fußstapfen von Charles Correa und BV Doshi. Sie gestalten ihre Entwürfe im traditionellen Kontext, greifen auf lokale Baumaterialien zurück und wenden regionale Bautechniken an. Zum anderen hat sich eine stark globalisierte Architektursprache entwickelt: Sie nimmt zwar Bezug auf den Ort, zeigt ihre Funktion – so wie gute Architektur es tun sollte – und ist technisch auf dem neuesten Stand. Allerdings reagiert sie auch auf die immer weiter wachsende Bevölkerung in Indien. Deshalb wird der urbane Raum gezwungenermaßen verdichtet – zulasten traditioneller Ästhetik. Die typischen Bungalows der Kolonialzeit mitsamt ihren weitläufigen Gärten weichen modernen Wohngebäuden, oft mit einer Vielzahl von Appartements. So entstehen moderne Townships und Geschäftszentren, oft geprägt von nachhaltig geplanten Hochhäusern.

Modernes Indien
Die Globalisierung hat ebenfalls zu einer rasanten Entwicklung der Infrastruktur geführt. Neue U-Bahn­Linien, ganze Flughäfen, aber auch Shopping-Malls und Entertainment-Flächen entstehen. All diese Gebäudetypologien zeichnen ein modernes Bild Indiens. Ein klassisches Beispiel dafür ist das von SOM entworfene sternenförmige Terminal 2 des innerstädtischen Chhatrapati Shivaji International Airports. Obwohl der Bau von seinen Ausmaßen natürlich überhaupt nicht der überwiegenden Kleinteiligkeit der umgebenden Bebauung entspricht, schaffen es die Architekten, regionale Gestaltungsmuster und -motive in ihren Entwurf zu integrieren und so trotz der unterschiedlichen Maßstäbe, der hochtechnisierten Funktion und der geschäftigen Atmosphäre eine organische Synthese zum Standort zu schaffen.

Verdichtung und Luxus
Ein weiteres Paradebeispiel sind die Future Towers in Pune, entworfen vom niederländischen Architekturbüro MVRDV. Rund 1000 Appartements, 45 bis 450 Quadratmeter groß, bieten Platz für einen bunten Querschnitt der Bevölkerung. Einen ganz anderen Ansatz verfolgt das Antilia-Hochhaus in Mumbai, dem man nachsagt, das ausgefeilteste und teuerste Wohnhaus der Welt zu sein. Das von Perkins&Will entworfene Gebäude ist 173 Meter hoch und hat dennoch nur 27 Stockwerke mit einer Wohnfläche von 37.000 Quadratmetern. Der Grund: Die Räume sollen durch ihre ungewöhnliche Höhe eine besondere Großzügigkeit erzeugen. Bewohnt werden sie nur von einer Familie: der des Unternehmers Mukesh Ambani.“

Prägende Technik
Ebenfalls möchte ich das 2004 von Karan Grover and Associates entworfene CII-Sohrabji Godrej Green Business Centre in Hyderabad erwähnen. Es ist das erste LEED-zertifizierte Gebäude Indiens. Ebenfalls LEED-zertifiziert ist die Botschaft Großbritanniens in Neu Delhi. Entworfen und gebaut wurde sie zwar schon 1990 von Charles Correa. Kürzlich strukturierte Morphogenesis den Bau jedoch von Grund auf um und brachte das Gebäude nicht nur auf den neuesten technischen Stand, sondern verpasste ihm zudem eine flexiblere Struktur. Moderne Technik ist in vielen Gebäuden bestimmendes Element der Entwürfe. Zu sehen ist das vor allem in den Geschäftszentren wie dem Bandra Kurla Complex in Mumbai, das von Gebäuden wie „The Capital“ und „ONE BKC“ geprägt ist.

Lichtdurchflutet, luftig und leicht wirkt der Terminal des Flughafens Mumbai – zumindest auf dem obersten Geschoss. Hier befindet sich der Check-in.
Lara de Rooij

Autorin: Lara de Rooij
geboren 1978 in Amsterdam, NL
studierte Architektur an der Universität Delft. Nach ihrem Abschluss 2004 arbeitete sie zunächst in verschiedenen Büros an internationalen Projekten – unter anderem in Indien. Schließlich gründete sie 2007 in Mumbai LMC Architects. Neben ihrer Arbeit als Architektin hielt sie Vorlesungen am Kamla Raheja Vidyanidhi Institute for Architecture and Environmental Studies, dem Sir JJ College of Architecture sowie dem Nirmala Niketan College, alle angesiedelt in Mumbai.
www.LMCarchitects.com


CHINA: HENRIK WINGS
„Chinas Architektur der vergangenen zwei Dekaden hat einen gewaltigen Entwicklungssprung erlebt. Tatsächlich wurde bis vor ungefähr 15 Jahren ein Großteil der Projekte vorrangig nach kommerziellen Aspekten entwickelt. Im Zuge einer rapiden Urbanisierung sowie der rasanten wirtschaftlichen Entwicklung war dabei oftmals Quantität wichtiger als Qualität. Hinsichtlich der architektonischen Gestaltungsgrenzen gab es eine recht große Bandbreite – oftmals auch stark forciert durch die persönlichen Vorlieben der Entscheidungsträger. China sah sich zudem noch als Entwicklungsland, das es schnell und effizient zu modernisieren galt. Gewachsene historische Strukturen mit kultureller Substanz mussten weichen und Platz machen für Neubauten. Neben einigen prestigeträchtigen Großprojekten waren dies vor allem gesichtslos anmutende und größtenteils durch lokale Design-Institute geprägte Bauwerke – oft wenig komplex und mit vernachlässigten funktionalen und räumlichen Qualitäten. Zudem fehlte auch schlichtweg das Know-how. Ein lokaler kulturhistorischer Bezug in der Architektur äußerte sich oftmals nur als Formalismus oder Pastiche – teils mit einem grotesken Hang zum Kitsch. Es sollte in diesem Zusammenhang allerdings auch erwähnt sein, dass dieser nach wie vor anhaltende Modernisierungsprozess – vor allem vor dem Hintergrund der kurzen Zeitspanne, in der er abläuft – in dieser Form wirklich einmalig ist in der Weltgeschichte.

Neues Selbstverständnis
Im Zuge der fortschreitenden Entwicklung setzte vor etwa 10-15 Jahren verstärkt ein gesellschaftlicher Umdenkungs- und Lernprozess ein, der auch einen erweiterten Architekturdiskurs betraf. China wurde sich durch seine wachsende Bedeutung in Wirtschaft und Politik wieder der eigenen Identität bewusst und entwickelte daraus ein neues Selbstverständnis. Teils auch inspiriert von europäischen Stadtmodellen, erkannte man vermehrt das Potenzial einer Integration von historisch gewachsener architektonischer Substanz als identitätsstiftendem Element, das auch kommerziell erfolgreich funktionieren kann. Zwei gelungene Beispiele hierfür sind die autofreien Shopping- und Ausgehviertel Xintiandi in Shanghai sowie Taikoo Li in Chengdu.

Parametrische Formen erzeugen den zukunftsorientierten Charakter des Galaxy SOHO in Peking von Zaha Hadid.
Überragend: der Shanghai Tower von Gensler.

Zwischen Lokalhistorie und Progression
Heute existiert ein wesentlich breiterer und substantiellerer Kanon in der chinesischen Architektursprache mit einem eigenen kulturellen Bezug. Die Spannbreite ist allerdings nach wie vor groß: Sie reicht von Neuinterpretationen traditioneller Bauweisen, Materialitäten und lokalhistorischen Typologien, wie wir sie in den Bauten von Wang Shu finden, bis hin zur zeitlosen, modernen Eleganz, die zum Beispiel Neri&Hu geschickt mit dem jeweiligen baulichen- oder traditionellen Kontext verknüpfen. Zudem gibt es nach wie vor ein starkes Bestreben nach Einzigartigkeit, das sich auch den innovativen und progressiven Neuausrichtungen innerhalb des globalen Architekturdiskurses nicht verschließt, sondern diese gezielt ermutigt. Das Galaxy SOHO von Zaha Hadid, Steven Holls MoMA in Peking oder auch der Shanghai Tower von Gensler sind Beispiele, die einen prägenden Einfluss hinterließen.“

Henrik Wings

Autor: Henrik Wings
geboren 1977 in Erfurt, DE
studierte Architektur an der Bauhaus-Universität in Weimar. Kurz nach seinem Abschluss 2004 zog es ihn nach China. Dort arbeitete er mehr als fünfzehn Jahre lang für verschiedene Architekturbüros, zuletzt für das amerikanische Büro Gensler als Design Director. Anfang 2020 kehrte er zurück nach Deutschland und gründete das international kollaborativ
tätige Architekturbüro Henrik Wings Architects.
www.wings-architects.com

alle Themen
keyboard_arrow_up
News
Kataloge
Mediacenter
Texte / CAD / BIM
Architektenberatung