Der Strukturwandel im deutschen Gesundheitswesen erfordert neue, zukunftsfähige architektonische Konzepte und Architekturen, die sich aus einer vertieften Menschenkenntnis einerseits und einem neuen Architekturverständnis andererseits ableiten. So eröffnen die Architektin Gemma Koppen und die Architektur psychologin Prof. Dr. Tanja C. Vollmer ihr aktuelles Buch „Architektur als zweiter Körper“, erschienen im Gebr. Mann Verlag.
In dieser ersten Entwurfslehre für den evidenzbasierten Gesundheitsbau zeigen wir, wie die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen unserem Wohlbefinden und dem uns umgebenden Raum in den Entwurf einfließen und wissenschaftliche Erkenntnisse aus ArchitekturPsychologie und Medizin wirkungsvoll genutzt werden können.
Gesundheit ist zerbrechlich
Gesundheit als Konzept und in ihrer Wertigkeit wirklich zu verstehen, gelingt uns eigentlich erst, wenn sie durch Krankheit bedroht, angetastet oder vernichtet wird. Bis dahin halten die meisten Menschen Gesundheit für etwas Selbstverständliches, etwas Robustes. Die COVID-19-Pandemie hat uns eindrucksvoll vorgeführt, dass das Gegenteil der Fall ist. Gesundheit ist kostbar und zerbrechlich, weil wir, die Menschen, nicht robust, sondern sehr verletzlich und angreifbar sind. Seit Dezember 2019 breitet sich COVID-19 auf der ganzen Welt aus, Millionen von Menschen wurden oder sind infiziert, und Hunderttausende von Todesfällen sind zu verzeichnen. Als Reaktion auf den Ausbruch haben mehrere Länder Sperrmaßnahmen und andere Strategien zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit eingeführt, um eine Ausbreitung des Virus zu verhindern. Neben den medizinischen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Epidemie zeigen nun erste Studien auch die schwerwiegenden psychischen Folgen auf. Stress, Ängste, Depressionen, Schlaf- und Suchtprobleme haben weltweit zugenommen. Eine wissenschaftliche Analyse von Social-Media-Inhalten nach dem Ausbruch zeigte beispielsweise eine deutliche Zunahme von Angst- und Depressionssymptomen mit Krankheitswert sowie eine gleichzeitige Abnahme der allgemeinen Lebenszufriedenheit und positiver Emotionen.
Verwaiste Innenstädte
In den Schaufenstern der leeren Kaufhäuser spiegelte sich die unsichtbare Bedrohung von Gesundheit und Leben. Geschlossene Museen und Theater wurden traurige Kulisse des plötzlichen Auf-sich-selbst-gestellt-Seins. Die Architekturen der Gemeinschaft und Begegnung, der Inspiration und Ablenkung – allesamt Umgebungsfaktoren, die unsere psychische Gesundheit normalerweise positiv beeinflussen – waren plötzlich verschlossen. Bürogebäude, Ämter, Universitäten, Schulen und Institutionen – Gebäude, die im Alltag durchaus mit negativen Gefühlen wie Stress, Anspannung, Überarbeitung, Konflikten oder Leistungsdruck verbunden sein können, fehlten uns plötzlich.
Fehlende Tiefe
„Nur zuhause hocken ist doch nicht gesund!“, rief mein vierzehnjähriger Neffe wütend aus der provisorischen Schreibtischecke in der Küche. Wie recht er hat. Seit Langem wertet die Psychologie Alltagsstrukturen, die auch mit räumlichen Abständen und körperlicher Bewegung von A nach B verbunden sind, als sogenannte harte Faktoren einer stabilen geistigen Gesundheit und als überaus wichtig für die gesunde kindliche Entwicklung. Doch wohin sollte mein Neffe ausweichen? Sein Zimmer hatte bereits seine Mutter konfisziert, um ungestört ihre täglichen ZOOM-Konferenzen abzuhalten. Der Balkon ist nicht beheizt, und Schule ohne Fußtritte zum Tischnachbarn ist für Jugendliche seines Alters nicht real. Wir alle spüren plötzlich leibhaftig, was die Wissenschaft über die Wahrnehmungswelt psychisch kranker Menschen längst weiß: „Wenn Raum fehlt, fehlt Tiefe.“ Die Stimmung wird flach, die Laune schlecht.
Offene Enden
Der Mensch kann viel ausgleichen, wenn ihm bekannt ist, dass ein Ereignis zeitlich begrenzt ist. Offene Enden hingegen führen in die Depression. Niemand weiß das besser, als jener, der an einer solchen leidet. Studien zeigen, dass depressive Menschen Teile ihrer Tiefenwahrnehmung verlieren und sich dadurch im Raum nur noch schwer orientieren beziehungsweise bewegen können. Ein Aspekt, den das niederländische Architekturbüro VMX Architects beim Entwurf einer psychiatrischen Klinik in Utrecht, dem Willem Arntsz Huis, berücksichtigte. Sie betonten an Fassade und im Inneren des Gebäudes Raumtiefen mithilfe extremer Schlagschatten, die wiederum durch zielgerichtete Ein-
und Ausstülpungen der Wände erreicht wurden.
Architektur als zweiter Körper
Wahrnehmungsveränderungen treten nicht nur bei psychischen, sondern auch bei schweren körperlichen Erkrankungen auf. In unserem Buch zeigen wir Wege auf, um aus Wahrnehmungsveränderungen gezielt unterstützende Architekturen und Entwurfsentscheidungen abzuleiten. Gesundheit ist mehr als das Fehlen von Krankheit. Der Großteil der Depressionen gehört in Deutschland zu den sogenannten chronischen Erkrankungen. Krankheiten also, bei denen – anders als bei der Pandemie – keine Hoffnung auf ein Ende besteht. Die Betroffenen leiden ihr Leben lang und haben zum Teil erhebliche Einbußen in ihrer Lebensqualität. Aktuelle Zahlen belegen, dass mehr als jeder Zweite in Deutschland unter einer chronischen Erkrankung leidet. Diese verteilen sich zu je rund 20 Prozent auf Herz-Kreislauf- und Krebserkrankungen. 11,4 Prozent sind Muskel- und Skeletterkrankungen und je rund 8,5 Prozent psychische und neurologische Störungen. Für all diese Erkrankungstypen konnten inzwischen Wahrnehmungsveränderungen wissenschaftlich nachgewiesen werden, die in vielerlei Hinsicht in Bezug zur gebauten Umwelt, zur Architektur stehen. Menschen mit einer Demenz weichen beispielsweise dunklen Farbfeldern aus, da sich diese in ihrer Wahrnehmung als Gräben oder Löcher darstellen. Krebserkrankte wiederum reagieren mit Angstattacken und physiologischem Stress auf bestimmte Raumproportionen, Abmessungen und Belichtungen von Räumen, die Gesunde als angenehm erleben. In unserem Buch helfen sieben ausgewählte Beispiele aus den subjektiven Erlebniswelten chronisch Kranker dabei, die Zusammenhänge von Raumwahrnehmungsveränderungen und Krankheit besser zu verstehen.
Gesundheit neu definiert
Neben den temporären Gesundheitsbedrohungen und -beeinträchtigungen und den akuten Erkrankungen wie einer Pandemie, einer Grippe, den Folgen eines Autounfalls oder einer Lungenentzündung und den genannten „endlosen“, chronischen Erkrankungen ist auch im Fall einer Behinderung nicht von vollständiger Gesundheit zu sprechen. 9,5 Prozent der Deutschen und 25,3 Prozent der über 64-Jährigen leben mit einer schweren Behinderung, die körperlicher und/oder geistiger Natur sein kann. Der aufmerksame Leser wird nun feststellen, dass mehr als Dreiviertel der deutschen Bevölkerung im klassischen Sinne nicht gesund sind und folglich das Konzept Gesundheit als „Abwesenheit von Krankheit“ zur Beschreibung der generellen menschlichen Basisverfassung, die es zu schützen gilt, nicht taugt. Zu dieser Erkenntnis kam vor einigen Jahren auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die neuerdings in ihrer Satzung Gesundheit folgendermaßen definiert: „(…) ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.“ Wohlbefinden hat dabei zwei Dimensionen: eine subjektive und eine objektive. Maßgebliche Bestandteile des objektiven Wohlbefindens sind die Lebensbedingungen von Menschen und ihre Chancen auf Nutzung ihres Potenzials. Im September 2012 formulierten Vertreter der 53 Mitgliedstaaten aus der Europäischen Region der WHO das Europäische Rahmenkonzept „Gesundheit 2020“, das auf der neuen Definition basiert und einen gesamtstaatlichen Ansatz zur Verbesserung der öffentlichen Gesundheit und zur Krankheitsprävention propagiert.
Psychosoziale Determinanten
Eines der Kernziele umfasst dabei die psychosozialen Determinanten, das heißt: die Bedingungen, unter denen Menschen geboren werden, aufwachsen, leben, arbeiten und altern. Architektur kann einen großen Einfluss auf diese Determinanten ausüben – vom Wohnungs- und Städtebau über den Entwurf von Schulen und Arbeitsstätten bis hin zu Alten- und Pflegeheimen –, wenn sie Wirkungszusammenhänge bewusst in ihre Konzepte mit einbezieht und Entwurfsentscheidungen wissenschaftlich begründet fällt. In unserem Buch führen wir in dieses neue Denken und Handeln ein und klären wichtige Begriffe zum Thema „evidenzbasiertes Entwerfen von Gesundheitseinrichtungen“.
Gesundheit ist (auch) Ergebnis von Architektur
Der aktuellen WHO-Definition zufolge ist Gesundheit das Ergebnis der Bedingungen, die wir als Gesellschaft schaffen. Eine der wichtigsten Bedingungen schafft dabei die gebaute Umwelt und zu ihr gehörend die Architektur. Diese Erkenntnis zählt zu einer der erfolgreichsten Wissensentwicklungen der modernen Architekturpsychologie der vergangenen zehn Jahre. Sie besagt, dass die Gesundheit der Menschen auf ihrer Beziehung zu einer (gebauten) Umwelt fußt, die sie ihren Bedürfnissen folgend nutzen und kontinuierlich mit- und umgestalten kann. Die wissenschaftliche Literatur zur Wirkung von Architektur auf die Gesundheit unterscheidet dabei zwei Wirksamkeitsrichtungen: negative, nachweislich gesundheitsschädigende und positive, gesundheitsförderliche Einflüsse. Zur Erklärung dieser Wirkungen geht die Psychologie von Grundbedürfnissen aus, deren Erfüllungsgrad individuellen Ausprägungen unterliegt und die durch externe Faktoren, zu denen Architektur zählt, unter- oder übersättigt werden können. In beiden Richtungen lassen sich Gefühlslagen beschreiben, die Krankheitswert annehmen können. Besteht beispielsweise ein Übermaß an Privatheit in einem Wohngebäude oder einer Wohnsiedlung, kommt es zur Anonymisierung, die unter Umständen in eine Depression münden kann. Bei einem Unterangebot entsteht Verfremdung als mögliche Basis einer paranoiden Störung.
Architekturpsychologische Erkenntnisse
Das Land Baden-Württemberg ist das erste Bundesland, das aktuell architekturpsychologische Erkenntnisse in die Entwicklung neuer Wohnstandards für den bezahlbaren Wohnungsbau einfließen lässt. Im Forschungs- und Entwicklungsprojekt „Der Mensch als Maßstab“ werden beispielsweise klassische Entwurfselemente wie der Laubengang auf seine Fähigkeit zur Schaffung gesunder sozialer Wohnumwelten hin (neu) auf den Prüfstand gestellt. Bereits 2005 entsteht in den Niederlanden der temporäre Internationale Strafgerichtshof, für dessen Entwurf die Architektin Gemma Koppen die Stabilisierung der seelischen Gesundheit der Opfer ins Zentrum stellt. Sowohl das Farb-, Anordnungs- als auch das Sichtlinienkonzept leiten sich aus dem Zusammenhang von Kontrollbedürfnis und Angsterleben ab.
Großbritannien als Beispiel
Im bereits erwähnten Beispiel der an Krebs Erkrankten spielt Angst ebenfalls eine große Rolle. Die Lebensbedrohung, die jeder Erkrankte trotz teilweise guter Heilungschancen erlebt, mündet in hohe seelische Belastungen, die auch im Zusammenhang zur Raumwahrnehmung stehen: Räume, in denen sich viele Menschen aufhalten, wirken plötzlich bedrohlich und können Angst- und Panikattacken auslösen. Werden diese Räume vergrößert oder mit „privaten“ Nischen versehen, ändert sich das Wohlbefinden der Betroffenen nicht. Eine Architektur, die hingegen mit Weitsicht und Kulissen arbeitet, bietet Blickfluchten an und verhindert das Gefühl von Enge und Eingeschlossensein. Die Panikattacken bleiben dann aus. In Großbritannien wurden auf der Basis eines Architektenbriefings bereits über zwanzig Einrichtungen entworfen, die genau diese architekturpsychologischen Zusammenhänge aufgreifen. Namhafte Architektinnen und Architekten wie Rem Koolhaas, Zaha Hadid, Richard Rogers und Snøhetta entwarfen unter Verwendung des Briefings kleine Psychotherapie- und Begegnungsstätten für Krebsbetroffene mit großer Wirkung auf deren psychische Gesundheit: die Maggie‘s Centres.
Bedürfnisorientierte Architektur
2021 veröffentlicht die Fachzeitschrift des Bundesgesundheitsministeriums ein dynamisches Modell, das die Wirkung der Architektur auf die Gesundheit des Menschen in drei Sektoren gliedert: präventive Architektur, kurative Architektur und rehabilitative Architektur (PAKARA, Bundesgesundheitsblatt, 2021). Während im präventiven Sektor die Wechselwirkung von Architektur und Mensch dazu führt, dass Gesundheitsschädigungen vermieden werden, trägt im kurativen Sektor Architektur dazu bei, Gesundheit wiederherzustellen. Nur für diesen Bereich ist die Bezeichnung „heilende Architektur“ zutreffend. Der dritte, der rehabilitative Sektor, schließt alle Auswirkungen einer gebauten Umwelt ein, die zur Stabilisierung der Gesundheit beitragen. Die REHAB in Basel ist ein gelungenes Beispiel für diesen Sektor. Das Architekturbüro Herzog & de Meuron nutzt hier speziell geformte und in die Patientenzimmer über den Liegenden eingebrachte Oberlichter zur neurophysiologischen Stimulation von Wachkomapatienten. Für den deutschen Krankenhausbau wird bereits seit einigen Jahren die Abwendung von der bedarfsorientierten Architektur zugunsten einer bedürfnisorientierten gefordert. Bauherren, Nutzer und Entscheidungsträger berufen sich dabei zunehmend auf das sogenannte evidence based design (EBD), im Deutschen evidenzbasiertes Entwerfen genannt. Gemeint ist damit, dass Architektinnen und Architekten sich bei ihren Entwurfsentscheidungen auf die architekturpsychologisch hergeleiteten Grundbedürfnisse und deren wissenschaftliche Sättigungsnachweise stützen. Wir gehen daher davon aus, dass Krankenhäuser, wie wir sie heute kennen, aussterben werden. Allerdings mangelt es noch weitestgehend an innovativen Modellen, die diese Lücke füllen und sich auf tragfähige wissenschaftliche Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen gebauter Umwelt und menschlicher Gesundheit berufen können. Das Princes Máxima Zentrum für Kinderonkologie in Utrecht (Niederlande) von LIAG Architekten ist ein solches Modell. Parallel zum Raumprogramm ließ die Bauherrin wissenschaftsbasierte Architekturkonzepte durch unser Büro entwickeln, die den gesundheitsgefährdenden Stress hospitalisierter Familien senken. Im Resultat entstand eine neuartige Patientenzimmer-Typologie, die Parent-Child-Patient-Unit (PCPU). In den PCPUs kann der Abstand zwischen Eltern und Kind in Abhängigkeit vom Gesundheitszustand des Kindes flexibel gestaltet und damit der zum Stressabbau nachweislich wichtige „Freiraum“ für beide Parteien geschaffen werden, ohne dass das wichtige Gefühl „sich nah zu sein“ verloren geht.
Mangelhafte Ausbildung
Die Entwicklung derartiger evidenzbasierter Architekturkonzepte wird aktuell nur unzureichend an deutschen Universitäten gelehrt oder in der Architekturpraxis eingesetzt. Dieser Zustand ist fatal, da gerade die neue Generation Studierender beziehungsweise Absolvierender hoch motiviert ist, eine auf den Menschen ausgerichtete, unterstützende und nachhaltige Gestaltung unserer Umwelt zu übernehmen und Entwerfen als sinnstiftend für ihr mit Leidenschaft gewähltes Berufsziel zu werten. Die moderne Architekturpsychologie, die in unserem Buch „Architektur als zweiter Körper“ entwickelt wird, gibt ausreichend Anleitung, um aus dieser Zuwendung eine Befruchtung der eigenen kreativen Arbeit abzuleiten.
Autorin: Prof. Dr. Tanja C. Vollmer
forscht und lehrt an der Technischen Universität München Architekturpsychologie und Gesundheitsbau. Sie studierte Biologie und Psychologie in Göttingen und Gesundheitspsychologie an der Harvard Medical School in Boston. Als Architekturpsychologin sitzt sie zahlreichen Expertengremien wie dem Wissenschaftskonsortium Architektur und Globale Gesundheit vor. 2008 gründete sie gemeinsam mit der niederländischen Architektin Gemma Koppen das Architekturbüro KOPVOL architecture & psychology in Rotterdam und 2019 in Berlin. 2015 erhielt die von KOPVOL entwickelte Patientenzimmertypologie PCPU den mit fünf Millionen Euro dotierten Innovationspreis niederländischer Krankenversicherer.
www.kopvol.com