Eine Tür ist mehr als ein Loch in der Wand. Und das Tor hat eine größere Bedeutung, als nur Ein- oder Ausgang zu sein. Über eines der wichtigsten Bauteile und eines der symbolisch überladensten Elemente in mehreren Jahrtausenden der Baukultur.
Wer sich mit Öffnungen in einer Wandfläche befasst, der macht sich zwangsläufig auch Gedanken über deren zuverlässige Abdichtung. Es gilt, sich sowohl gegen Hitze und Kälte als auch gegen Feuchtigkeit oder Staub zu wehren, gegen Lärm, Brände und gegen ungebetene Gäste. Kaum ein Bauelement ist so multifunktional wie eine Tür in der Wand oder deren großer Zwilling, das Tor. Und dennoch beschränkt sich die Funktion nicht allein auf rein technisch lösbare Aufgabenstellungen. Türen und Tore sind Symbole der Macht und der Ohnmacht, der Hoffnung oder der – mitunter – ewigen Verdammnis.
Die bereits genannten technischen Problemstellungen des Tores sind so gut wie gelöst. Und was an neuen Herausforderungen noch hinzukommen mag, das wird durch die einschlägig erfahrenen Unternehmen der Bauzulieferindustrie zuverlässig und in kürzester Zeit durch vielfältigste Innovationen gelöst. Für die Ängstlichen unter den Bauherren und Planern haben die nimmermüden DIN-Ausschüsse darüber hinaus schon längst eine Fülle von Standards entwickelt. Sie berücksichtigen nahezu jedes denkbare Detailproblem und bieten neutrale Entscheidungsgrundlagen für Architektinnen und Architekten ebenso wie für das juristische Fachpersonal des dazugehörigen Baurechts.
Handwerkskunst
Historisch betrachtet konzentrierte sich auf der vergleichsweise geringen Fläche einer Tür eine ungeahnte Kompetenz verschiedensten Handwerks. Für die umschließende Wand waren die Fähigkeiten von Maurern gefragt, für das Portal und dessen Dekoration sowie die Wandanschlüsse, die Gewände und womöglich eine Stufe davor, die Steinmetze. Zimmerleute und Schreiner fertigten das hölzerne Türblatt und den Rahmen. Holzschnitzer steuerten bei Bedarf die Ornamentik bei. Glaser fertigten ein Oberlicht, Schmiede die Scharniere, Schlosser die Klinken und die Schließtechnik.
Säcke an den Türen
Was ein zeitgenössischer Türenhersteller mit Hilfe der Zulieferer und im Rahmen seines Workflows erledigt, war zuvor ein komplexer Vorgang mit zahllosen Schnittstellen. Mit der zunehmend perfekten Bewältigung aller technisch-funktionalen Herausforderungen ging jedoch eine Verarmung des Symbolgehalts von Tür und Tor einher. Und fast noch schlimmer: Das Element Tür wurde immer weniger als integraler Bestandteil des Gesamtsystems „Haus“ gesehen, sondern als völlig losgelöstes, gleichsam verwildertes Baumarkt-Produkt.
„Habt ihr zu Hause Säcke an den Türen?“ Dieser wohlmeinend-pädagogische Verweis, der in der Regel eher den Jüngeren entgegengebracht wurde und wird, verfügt durchaus über einen kulturhistorischen Hintergrund. Denn nicht nur die amerikanischen Ureinwohner der Lakota verschlossen die Eingänge ihrer Tipis mit Bisonleder und später mit Textilien. Auch die vor- und frühgeschichtlichen Europäer nutzten diese flexiblen Abschlüsse ihrer Behausungen. Der Sack war gleichsam die erste Tür – zu Zeiten, als die erwähnten Zusatzfunktionen noch nicht gefragt waren.
Tür der Toten
Wer im Italien-Urlaub durch die mittelalterlichen Straßen etruskischer Städte wie Gubbio oder Cortona schlendert, der entdeckt an den Wohnhäusern gleich zwei verschiedene Arten von Türen. Außer der mehr oder weniger repräsentativen Haupteingangstür wurde gleich daneben eine weitere, in der Regel deutlich schmalere und höhere Pforte geschaffen. Diese „Porta del Morto“ diente nur einem einzigen und eher selten vorkommenden Zweck. Die Leichen der im Hause Verstorbenen wurden durch diese Extrapforte hinausgetragen. Ursprung dieser Totentür waren die Etrusker. Jenes Vorgängervolk der Römer war davon überzeugt, der Tod dürfte mit seiner Kundschaft das Haus nicht durch die normale Tür verlassen. Denn hätte er erst einmal gelernt, das Gebäude auf diesem Wege zu betreten, so würde er aufs Neue und immer häufiger wiederkehren. Erst mit dem Tod eines Bewohners wurde die „Porta del Morto“ kurzzeitig geöffnet. Ansonsten war diese Totentür entweder besonders widerstandsfähig ausgeführt, oder sie wurde vorsorglich gleich zugemauert und nur im Bedarfsfall für die Sargträger geöffnet.
Generalabsolution
Auf ähnliche Weise mit Bedeutung überhöht sind die „Heiligen Pforten“ in den wichtigsten katholischen Kathedralen. Denn sie bieten den Gläubigen die Möglichkeit der Generalabsolution. Wer sie zum passenden Zeitpunkt in einem sogenannten „Heiligen Jahr“ – und natürlich mit der nötigen spirituellen Einstellung – durchschreitet, der ist anschließend wieder bar aller Sünden. Die bekannteste Heilige Pforte findet sich im Petersdom, die vermutlich am häufigsten genutzte auf der Rückseite der Kathedrale von Santiago de Compostela, die Jahr für Jahr Ziel eines Pilgerstroms aus der ganzen Welt ist.
Üblicherweise ist die Pforte verschlossen, und bis zum Jahr 2003 war sie sogar vermauert. In jedem „Heiligen Jahr“ wurde die Wand in einer großen Zeremonie eingerissen und am Ende des Jahres wieder hochgemauert. Seit knapp 20 Jahren befindet sich auf der Innenseite der Wand nun eine Bronzetür, die vor dem Abriss der Mauer geöffnet wird und praktischerweise des Nachts wieder verschlossen werden kann.
Rettender Türbeschlag
Doch nicht nur in „Heiligen Jahren“ kommt der Kirchentür eine besondere Bedeutung zu. Jedes mittelalterliche Kirchenportal ist nichts weniger als der Eingang ins himmlische Jerusalem. Denn die bauliche Abbildung des Himmelreichs auf Erden war der eigentliche Sinn einer Kathedrale. Und das Portal selbst wurde auch für Asylsuchende zum rettenden Ort. Wer verfolgt wurde und Kirchenasyl suchte, der war nicht darauf angewiesen, ins Innere eines Gotteshauses zu gelangen, um vor den Häschern sicher zu sein. Es war ausreichend, den Türring der Kathedraltür zu fassen zu bekommen – und schon war die Flucht ins Kirchenasyl gelungen. Der hohe Rechtsakt trat schon allein mit der Berührung des Türbeschlags in Kraft – eine schöne Eigenschaft, die dem zeitgenössischen Türdrücker inzwischen völlig abgeht.
Wirkung von Türen und Toren
Diese christlichen Pforten boten den Verfolgten Sicherheit und den Pilgern ein Heilsversprechen – ebenso wie zahlreiche andere Türen und Tore zu Gotteshäusern verschiedener Religionen. Die religionslosen Nationalsozialisten nutzten die Eingangstore ihrer Konzentrationslager dagegen, um die Insassen noch zu verhöhnen. „Arbeit macht frei“ stand zuerst über dem Eingang des KZ Dachau, später über dem Tor des Vernichtungslagers Auschwitz. Wer das KZ Buchenwald betrat, musste über der Tür das verballhornte Cicero-Zitat „Jedem das Seine“ lesen. Die Nationalsozialisten wussten auch an anderer Stelle die besondere Bedeutung eines Eingangs für ihre Zwecke zu nutzen.
Die gewaltigen Türen im Inneren der Reichskanzlei in Berlin und die Montagehöhe der Türklinken ließen auch noch den selbstsichersten Besucher auf Zwergendimension schrumpfen. So reduziert trat er den Machthabern im gewünschten Miniaturformat entgegen. Die Größe von Türen und Toren und deren Wirkung auf Besucher wird auch heute noch von Autokraten aller Länder sehr gerne für ihre Zwecke genutzt, wie ein Blick auf deren in jüngerer Vergangenheit errichtete Paläste beweist.
Psalm 24
„Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ ist ein barockes Kirchenlied für die Adventszeit, das sich in nahezu jedem christlichen Gesangsbuch findet, geschrieben von Georg Weissel (1590-1635), Pfarrer in Ostpreußen, der wiederum Psalm 24 zitierte. In zahlreichen Religionen haben Türen und Tore eine zentrale Bedeutung, wenn durch sie entweder ein Gott das irdische Reich betritt oder die Gläubigen den Weg in ein Himmelreich finden.
Das Gegenteil von barrierefrei sind die enorm hohen Schwellen an den Türen traditioneller chinesischer Häuser – denn hier kommt das Böse ins Stolpern und bleibt dem Haus fern. Während im Westen weihnachtliche Kränze häufig die Tür dekorieren, hängen in Indien dort Chilibündel oder Limetten und schrecken böse Geister ab. Im jüdischen Glauben wird die Tür durch eine „Mesusa“ mit Bedeutung aufgeladen. Die schräg am Türpfosten angebrachte Kapsel enthält ein Stück Pergament namens Klaf, das mit einem Vers aus der Tora beschriftet ist.
Poesie
Auf beinahe ebenso sakrale Weise nutzt Santiago Calatrava das Tor zur Überhöhung einer ansonsten reichlich profanen Funktion. In seinem Projekt für das Vertriebszentrum des Modehändlers Ernsting‘s Family in Coesfeld in den 1980er-Jahren interpretierte er die Entwurfsaufgabe Tor völlig anders, als es die Moderne bis dato getan hatte. Die Tore zur Lagerhalle oder ins Parkhaus sind keine singulären Elemente mehr, es handelt sich vielmehr um integrale Bestandteile der Fassade, die erst im Moment des Öffnens auf eine fast schon poetische Weise den Zugang zelebrieren.
Inszenierung
Die vertikalen Stäbe der Torfläche knicken an unterschiedlichen Stellen nach außen. Aus der Wand faltet sich eine geschwungene, flügelartige Fläche und wird schließlich zur Willkommensgeste und zum Vordach für den ankommenden LKW. Auf demselben Firmengelände – jedoch nicht ganz so organisch gestaltet – entstand Jahrzehnte später das Firmen-Parkhaus nach einem Entwurf von Liza Heilmeyer und Stephan Birk. Hier knicken die hölzernen Stäbe mittig nach außen und öffnen die Zufahrt zu den Parkdecks.
In beiden Fällen sind die Gebäude hermetisch geschlossen, fast autistisch und ohne deutlich sichtbar gemachte Eingänge. Erst durch die Inszenierung des Öffnungsvorgangs werden die Zugänge kenntlich. So aufwändig Gestaltung und Konstruktion dieser Garagentore auch sind – letztlich geht es „nur“ darum, Lagerhallen und Parkdecks zu verschließen. Und doch sind es seltene Einzelfälle, in denen dem Tor seit dem „Großreinemachen“ der Moderne wieder eine besondere Bedeutung zukam und eine besondere (vielleicht auch etwas ausufernde) gestalterische Aufmerksamkeit gewidmet wurde.
Funktional
In der Vor-Moderne – zuletzt im Historismus und im Jugendstil – wurden die Tür und das Tor vor allem als Bedeutungsträger genutzt. Botschaften des Bauherrn und der Bewohner an Gäste und Passanten lasteten dann mitunter schwer auf den Eingängen. Mit der Moderne wurden auch die Türen entrümpelt, und es blieben weiße Flächen, deren Form der Funktion folgte. Wo es dann noch symbolhafter Gestaltung bedurfte, da waren es eher Versprünge in der Fassade, raumgreifende Vordächer oder bedeutungsschwere Wegeführungen, mit denen dem Gast Orientierung verschafft wurde und dem Hausbesitzer Bedeutung.
Prototypisch für diese neue Methode waren die Meisterhäuser in Dessau oder die Stuttgarter Weißenhof-Siedlung. Die Eingangstür dort ist seriell, und die gestalterische Belastungsgrenze ist bereits erreicht, sobald zu Weihnachten ein Adventskranz die Besucher begrüßt. Wo die Reduktion so weit getrieben wird, dass jedes Anzeichen individuellen Wohnens zur Belastung des Entwurfsgedankens wird, da hat es die Architektur am Ende schwer. Sie stellt sich dann durch so manche nachträglich durch die neuen Eigentümer eingebaute Tür als nur mäßig belastbar heraus.
Von der Trutzburg zur Wohnung
So uniform sich die Eingangstür zur Wohnung in der Gegenwart auch gibt, es ist der bevorzugte Platz zur bürgerlichen Revolte gegen sozial oder architektonisch aufoktroyierte Normen. So divers, wie es in der Reihenhaussiedlung zwischen Türklingel, Briefkastenschlitz und Vordach zugeht, ist es an kaum einer anderen Stelle der Gesellschaft. Und was für die mittelalterlichen Burgherren eine komplizierte Abfolge von Zugbrücke, Zwinger und Falltor war, das reduziert sich beim Wohnungsbesitzer der Gegenwart nun auf den Türspion oder die WLAN-fähige Kamera.
Selbstdarstellung
Das menschliche Bemühen, einer wie auch immer gearteten Persönlichkeit oder einem Lebenserfolg Ausdruck zu verleihen, mündet schließlich idealerweise in das erstrebte Einfamilienhaus. Und dort manifestiert sich die Haustür als Schnittmenge der drei Faktoren Dauerhaftigkeit, Reinigungsfähigkeit und Individualisierung. Wo die Hausordnung der Etagenwohnung noch Grenzen setzt, da bricht sich der Gestaltungswille beim Eigenheim nun seine Bahn. Der „Herzlich willkommen“-Fußabtreter genügt nicht, nun sind es nach wie vor die dorischen Säulen als Portal vor dem Schloss des Kleinbürgers oder alternativ das Holzimitat-Türblatt mit Butzenscheiben, mit dem eine heimelig-bäuerliche Lebensweise nachempfunden wird. Der architektonische Drang nach dem geschlossenen Gesamtwerk gerät also sehr rasch in Konflikt mit dem Wunsch der Bewohner nach Selbstdarstellung. Was dem frühgeschichtlichen Herrscher, dem absolutistischen König oder den Autokraten der Gegenwart recht ist, das sollte dem Bausparer nur billig sein.
Prominente Türen
Die Haustür des britischen Premierministers in der Downing Street Nummer 10 unterscheidet sich bis heute kaum von der Pforte eines halbwegs gut situierten englischen Bürgers. Und über Jahrhunderte hinweg war es auch eine völlig normale und von allen Bürgerinnen und Bürgern des Vereinigten Königreichs nutzbare Abkürzung auf dem Weg in den St. James’s-Park. (Inzwischen ist der Weg aus Sicherheitsgründen gesperrt.) Auch der Kanzler-Bungalow und damit die Wohnungstür zur Macht der „alten“ Bundesrepublik war vergleichsweise bescheiden. Das für Ludwig Erhard errichtete Gebäude von Sep Ruf hätte auch die Villa eines mittelständischen Unternehmers sein können und wurde von den meisten seiner Bonner Kanzler-Nachfolger eher wenig geschätzt.
Helmut Kohls Privathaus in Oggersheim atmete dagegen architektonisch den Geist seiner Politik. Hinter der Eingangstür seines Wohnhauses hätte ebenso gut ein rechtschaffener Angestellter in gehobener Führungsposition oder der örtliche Kreissparkassen-Filialleiter leben können. Dass die französischen Staatspräsidenten in der Regel etwas imperialer wohnen, ist nicht verwunderlich. Der Élysée-Palast gehörte erst dem Grafen von Évreux, dann Louis-Henri de La Tour d’Auvergne und schließlich der offiziellen Mätresse Madame de Pompadour. Der Eingang zur neuen Residenz des türkischen Präsidenten Erdogan schließlich ist das getreue Spiegelbild seiner Selbstwahrnehmung.
Lebensenergie
Anhänger fernöstlicher Weisheiten werden mit gläsernen Türen fremdeln. Denn nach den Regeln des Feng Shui gelten Haustüren mit großflächiger Verglasung keineswegs als demokratisch-weltoffene Geste. Sie seien sogar schlecht, weil sie die Grenze zwischen Bewohner und Besucher auflösten. Die Tür sollte nach Feng Shui auf jeden Fall prominenter sein als das Garagentor – eine gar nicht so leicht zu lösende architektonische Aufgabe angesichts der Bedeutung, die dem Kraftfahrzeug in unserer Gesellschaft zukommt. Auf jeden Fall aber sollte sich alles bei der Tür um ordentlich „Chi“ drehen. Denn „Chi“ gilt als Lebensenergie – und diese wird durch die Tür ins Haus befördert. Dies wäre dann also für die Produktentwickler der Türenindustrie eine ganz neue Herausforderung. Nicht nur Einbruchsicherheit, Schallschutz oder Reinigungsfähigkeit wollen bei Entwurf und Konstruktion der Tür berücksichtigt werden – sondern auch das „Chi“. Wie eingangs behauptet, ist die Tür historisch betrachtet eines der komplexesten Bauelemente des Gebäudes – und dies wird auch in Zukunft der Fall sein. Egal ob mit „Chi“ oder ohne.
Autor: Dr. Dietmar Danner
ist ausgebildeter Tageszeitungsredakteur, studierte Architektur und wurde mit einer Arbeit über Geschmacksbildungsprozesse in der Architektur promoviert. 25 Jahre arbeitete er als Redakteur bei verschiedenen Design- und Architekturzeitschriften – einen Großteil davon als Chefredakteur / Verlagsleiter von AIT und xia. 2013 verabschiedete er sich in die Selbstständigkeit, gründete mit Architect’s Mind eine eigene Kommunikationsagentur, veranstaltet weltweit Kongresse und Workshops und publiziert erfolgreiche Architektur-Fachzeitschriften.
www.architectsmind.de