Tourismus und Architektur gehen häufig Hand in Hand. Spätestens, seitdem der sogenannte Bilbao-Effekt wissenschaftlich belegt wurde, achten schlaue Stadtobere auf imagefördernde Architektur in ihren Städten – so sie es sich denn leisten können. Felizitas Romeiß-Stracke weiß, warum Städte und Menschen gleichermaßen von herausragender Architektur profitieren.
„Ein Bilbao bräuchten wir jetzt auch“, seufzte der Bürgermeister einer mit großen Problemen kämpfenden mittelgroßen Stadt, als er den Haushalt für das nächste Jahr studierte. Er meinte damit natürlich das von Frank Gehry 1997 erbaute Guggenheim-Museum in Bilbao, das die bis dahin im scheinbar unaufhaltsamen Niedergang begriffene Industriestadt geradezu kometenhaft auf die touristische Landkarte katapultiert und ihr Wirtschaftswachstum und Imagegewinn gebracht hatte. Seit zwanzig Jahren geistert der „Bilbao-Effekt“ nun durch die Köpfe von ehrgeizigen Stadt- und Regionalpolitikern. Aufwendige Kulturbauten, möglichst von einem Star-Architekten entworfen, versprechen Touristen – und damit Arbeitsplätze, Steuereinnahmen und Imagegewinn. Jüngste Beispiele sind neue Museen auf der arabischen Halbinsel wie das Louvre in Abu Dhabi von Jean Nouvel und das Museum of the Islamic Arts in Doha von I. M. Pei, wo man die Abhängigkeit vom Öl durch mehr Tourismus verringern will.
Herausragende Architektur
Aber auch bei uns in Deutschland setzt man auf diesen Effekt. Die Elbphilharmonie in Hamburg von Herzog und de Meuron hat dem Tourismus in der Hansestadt neuen Aufschwung verliehen. Ein weiteres, weniger spektakuläres, aber sehr gutes Beispiel für den Multiplikatoreffekt von hochwertigen Kulturbauten ist der kleine, architektonisch herausragende Konzertsaal von Peter Haimerl in Blaibach, einer dörflichen Gemeinde im Bayerischen Wald. Gab es dort vorher praktisch keine halbwegs akzeptablen Übernachtungsmöglichkeiten, entwickelt sich seitdem eine interessante Hotellerie.
Weltweites Wachstum
Städtetourismus ist seit Jahren eines der stärksten Wachstumssegmente der Tourismusindustrie. Dank Billigfliegern und Pauschalpaketen quälen die Menschenmassen manche Orte inzwischen sogar dermaßen, dass man sich gegen den „Overtourism“ zu wehren beginnt: in Barcelona, in Venedig, in Amsterdam, in Dubrovnik, auf Mallorca. Aber: Die Geister, die man rief, wird man nur schwer los. Ob die gerade vom Bürgermeister von Palma de Mallorca angestrebte Reduzierung der Hotelbetten in der Stadt von 80.000 auf 63.000 nützt, geschweige denn durchsetzbar ist, bleibt abzuwarten. Und es scheint kein Ende des Wachstums in Sicht: Die UNWTO, die World Tourism Organization der Vereinten Nationen, sagt ein Wachstum des weltweiten Tourismus um jährlich 6 bis 10 Prozent in den nächsten zehn Jahren voraus. So entstehen immer neue Hotels. Man kann sich über die Risikobereitschaft der Investoren nur wundern. Denn die touristische Nachfrage ist ja durchaus volatil. Politische Ereignisse, Attentate, Streiks können plötzliche Rückgänge der Touristenzahlen zur Folge haben. Auch wenn Touristen Gefahren nachweislich recht schnell verdrängen: Sicher ist der Markt keineswegs. Dazu kommen Anbieter wie Airbnb, die eine starke Konkurrenz für die Hotels darstellen.
Originalität
Hotels müssen längst mehr bieten als ein Bett, eine Dusche, einen Fernseher und ein Frühstück. Die Architektur außen und innen, das gesamte Ambiente mit seinen Accessoires, ist Bestandteil der Marktposition. Originalität zählt, wobei man sich nicht selten fragt, ob der Lifestyle des angepeilten Gästeklientels hinsichtlich Möblierung, Dekoration und Beleuchtung wirklich die Innenarchitektur bestimmt hat oder doch eher der unbedingte Wille, designmäßig besonders abgefahren zu sein. Häufig wird dabei zu wenig berücksichtigt, dass Reinigung und Pflege einigermaßen wirtschaftlich zu bewerkstelligen sein müssen. Ein Badezimmer wie im Roomers Frankfurt ganz aus schwarzem Material – so ansprechend es aussehen mag – reagiert ziemlich empfindlich auf Wasserflecken und bringt das Putzpersonal vermutlich zur Verzweiflung.
Emotionaler Verstärker
Soweit der Status quo. Um zu beurteilen, wie es weitergeht, ist es nützlich, einige soziologische und psychologische Hintergründe zu beleuchten. Zunächst eine sozialpsychologische Banalität: Ein Städtetrip ist eine gute Gelegenheit, gemeinsam etwas Besonderes zu unternehmen, als Paar, als Familie, als Clique, als Club. Das Programm liefert die Stadt, vor allem die Innenstadt. Die Personen bummeln hindurch, schauen die Gebäude an, hören einem Straßenmusikanten zu, trinken im Café an einem Platz einen Latte Macchiato. Sie sind dabei zusammen, aber nicht so aufeinander fixiert wie zum Beispiel bei einem gemeinsamen Strandurlaub. Eventuelle gruppendynamische Stolperfallen können wunderbar durch Besichtigungen und Shopping umgangen werden. In der Regel dauert das Ganze auch nicht länger als zwei bis drei Tage, sodass man danach wieder seiner Wege gehen kann. Und: Das unmittelbare Gespräch über das Erlebte, das gemeinsame „Wow“ oder „Huch“, ist ein wichtiger emotionaler Verstärker. Daneben gibt es natürlich noch die internationalen Touristen, für die der Besuch von (europäischen) Städten zu ihrem Round-Trip gehört. Selten bleibt ihnen bei dem eng gestrickten Sightseeing-Programm allerdings die Zeit, sich wirklich auf Architektur einzulassen. Sie fotografieren sie und sich davor und schauen dann später nach, wo sie eigentlich waren.
Resonanz und Resonanzverlust
Für Architekten ist der folgende Erklärungsansatz interessanter. Es ist ja so: Die unmittelbare, also körperlich-sinnliche Erfahrung gebauter Umwelt – sei es eine schöne historische Altstadt, ein aufregendes Museum, die gediegen oder extravagant gestaltete Lobby eines Hotels – versetzt Menschen immer in einen sinnlichen, emotionalen Zustand. Auch wenn sie es nicht direkt artikulieren können. Menschen spüren so etwas wie Resonanz. Der Jenaer Soziologieprofessor Hartmut Rosa vertritt die These, dass Menschen von ihrer psychophysischen Konstitution her diese Resonanz unbedingt brauchen. Damit meint er körperlich-seelisch schwingende Weltbeziehungen, „welche es den Subjekten erlauben und ermöglichen, sich in einer antwortenden, entgegenkommenden Welt getragen oder sogar geborgen zu fühlen“.1 Wo diese Resonanz fehle, verstumme die Welt für den Einzelnen. Der Mensch fühle sich nicht lebendig. Rosa geht sogar so weit, in der Angst vor einem umfassenden Resonanzverlust, vor einem Verstummen der Welt, heute eine „existenzielle Grundangst“2 zu sehen.
Analoge Erfahrungen
Das „Verstummen der Welt“ spürt man besonders an den vielen „Nicht-Orten“, in denen unser Leben zunehmend spielt, Architekturen und Ambientes, die global alle ähnlich aussehen: Bürogebäude, Flughäfen, Autobahnen, neue Wohnquartiere mit den immer gleichen Klötzen und Schießscharten-Fenstern, an denen der Blick abgleitet. Nicht zuletzt verstärkt die Zweidimensionalität der digitalen Medien den Verlust von Resonanz. Resonanz braucht analoge Erfahrungen! Die Antwort auf die Frage, ob Virtual Reality das kann, steht noch aus. Heute bedienen sich aber immer mehr Menschen der Möglichkeit, Resonanz zu erfahren, indem sie selbst in Räumen mit hohem Resonanzpotenzial auf ihr Tablet oder ihr Handy starren und sich von der Umgebung abkoppeln. Ganz sicher ist die rapide Zunahme von psychischen Erkrankungen wie Burn-out und Depression auch auf um sich greifende Resonanzdefizite zurückzuführen. Um diese auszugleichen, suchen Menschen „Resonanz-Oasen“ (Rosa) auf. Hier holen die Bewohner der modernen Welt die im Alltag vermissten seelisch schwingenden Weltbeziehungen, die analogen Erfahrungen, nach. Sie begeben sich in „Räume“, wo sie sehen, gehen, sitzen, riechen, tasten, hören – sich selbst erfahren können: in die Natur zum „Waldbaden“, in Spas zum Massieren, an Kletterwände zum Bouldern, in Museen zum Wandeln und Schauen, in Konzerthäuser, um von der Musik berührt zu werden. Längst hat sich eine eigene „Erfahrungsökonomie“ etabliert, die diese Resonanz-Oasen managt und vermarktet, und sie wächst unaufhörlich. Viele Architekten sind Akteure dieser Erfahrungsökonomie, auch wenn wohl nur die wenigsten sich bewusst so positionieren würden.
Räume der Selbstdarstellung
Bleiben wir bei den Museen. Die Architektur der besonders spektakulären Bauten bietet einen Resonanzraum, durch den man sich hindurchbewegt – nicht selten, ohne die Kunstwerke selbst anzuschauen. Die „Flachware“, wie Bilder bezeichnenderweise im Jargon heißen, kann man sich ja aufs Tablet herunterladen. Aber das Schreiten durch Säle, der Aufstieg zu einer Galerie, der Blick hinauf zu einer Kuppel – das sind sinnliche, körperliche Erfahrungen, die es nur hier gibt. Nicht zuletzt sind Museen auch Räume der Selbstdarstellung, sogenannte „Third Places“ (neben dem privaten und öffentlichen Raum), in denen man im Zweifel ähnlich gestimmte Menschen sieht und von ihnen gesehen wird, was wiederum soziale Resonanz erzeugt. Der eine oder andere Star-Architekt hat vielleicht zu Recht die dreiste Behauptung aufgestellt, dass er sein Museum eigentlich gar nicht als Ausstellungsraum, sondern als begehbare Skulptur gedacht hat.
Resonanzerfahrung
Konzertsäle sind schon von ihrer Konstruktion her Resonanzräume. Der Wettbewerb um die beste Akustik symbolisiert ja geradezu die Sehnsucht unserer Gesellschaft nach Resonanz. Nüchtern betrachtet mag selbst für manchen Musikbegeisterten dieser Hype um die Hörbarkeit eines gestrichenen C in der hinterletzten Reihe nicht ganz nachvollziehbar sein. Aber wie kontrovers wurde in den Medien nach dem Eröffnungskonzert in der Elbphilharmonie darüber gestritten, ob wirklich alles so toll klang wie erwartet! Perfekte Akustik ist aber nicht alles. Die Architektur eines Konzerthauses soll auch die Resonanzerfahrung des gemeinsamen Hörens, das Spüren der Energien, die im Spiel des Orchesters freigesetzt werden, und den Genuss für die Augen, wenn sie über die Wände des Saals wandern, verstärken. Und das Wandeln in der Pause mit einem Glas in der Hand durch ein Foyer, das architektonisch etwas aussagt (wie auch immer: provozierend oder „einfach schön“) verstärkt die Resonanzerfahrung. Das Gemeinschaftserlebnis beim Zuhören dürfte auch ein wichtiges Motiv für die vielen Konzerte in Arenen oder als Open-Air im Stadtraum sein.
Resonanzverlust
Der Verlust an Resonanz im alltäglichen Leben der westlichen (kapitalistischen) Gesellschaften dürfte sich leider eher beschleunigen. Resonanz-Oasen mit einer Architektur, die Resonanz zulässt oder erzeugt, werden also immer wichtiger. Das erfordert viel Sensibilität und Können von den Architekten, aber auch ein Bewusstsein bei Bauherren und Investoren. Ganz langsam wächst da ja etwas, wie die Diskussion um „Schönheit“ in der Fachwelt signalisiert – ein Begriff, der noch vor zehn Jahren in der Architekturdiskussion abgewertet und in die Nähe zum Kitsch gerückt wurde. Aber es kann auf die Dauer nicht gut gehen, dass die Signature Buildings und die Resonanz-Oasen die stumme Alltagswelt kompensieren sollen. Eigentlich sollte alles, was für Menschen gebaut wird, Resonanz erzeugen.
1,2 Hartmut Rosa, „Resonanz. Eine Theorie der Weltbeziehung“, Suhrkamp Verlag 2016
Autorin: Prof. Dr. Felizitas Romeiß-Stracke
geboren 1945 in Naumburg an der Saale, DE
studierte von 1965 bis 1969 Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Psychologie an der Universität München. Es folgte ein einjähriges Post Graduate Studium an der Universität Liverpool, ehe sie von 1970 bis 1977 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität München tätig war. 1977 gründete sie das Büro für Sozial- und Freizeitforschung BSF (Trendforschung, Strategieberatung, Projektentwicklung für Freizeit und Tourismus), aus dem 2007 die Plattform TourismusArchitektur (Forschung und Vernetzung zu Baukultur im Tourismus) entstand. Zudem lehrte Felizitas Romeiß-Stracke als Professorin an der Fachhochschule für Tourismus München im Fach „Destination-Management“, war Contract Professor an der Universität Bozen und hatte Lehraufträge an der Technischen Universität München sowie dem MCI Innsbruck. Zudem engagiert sie sich ehrenamtlich in diversen architektur- und tourismusnahen Organisationen.
www.prof-dr-romeiss-stracke.de