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Mehr Mut

Der PISA-Schock und die Folgen

Genau genommen kam der PISA-Schock nicht überraschend. Zu groß war der Inves­titionsstau im Bildungssektor. Sei es in Hinsicht auf neue pädagogische Konzepte – oder auf Architektur. Denn die Schulbauten aus den 1950er- bis 1970er-Jahren waren alles, nur nicht mehr zeitgemäß. Prof. Dr. Susanne Hofmann erläutert, wie sich das Bildungssystem in einem langwierigen und komplizierten Prozess neu aufstellt.

Das Bauen in Deutschland, insbesondere der Bau von Schulen, ist in den ersten beiden Jahrzehnten des neuen Jahrtausends ein spannendes und herausforderndes Tätigkeitsfeld. Dabei waren wir Architekten gar nicht so sehr darauf bedacht, den Milleniumswechsel mit der Entwicklung einer neuen Schularchitektur zu feiern. Doch dann kam es im Jahr 2001 zum sogenannten PISA-Schock. Deutsche Schüler – und damit das deutsche Bildungssystem – erreichten in der zum ersten Mal durchgeführten internationalen Studie der UNESCO nur den 21. Platz. 32 Nationen hatten teilgenommen. Ein Desaster für das doch sehr leistungsbezogene Deutschland. Sofort hoben die Diskussionen über die Verhältnisse im Bildungssektor an: Es wurde über die soziale Herkunft der Schüler, neue pädagogische Konzepte, über nachhaltiges, individuell gefördertes Lernen in Schulgemeinschaften, über einen Ganztagesbetrieb der Schulen diskutiert – und über Architektur.

Raum als Lehrer
Die schon etwas betagte, aber doch noch immer gültige Weisheit des italienischen Reformpädagogen Loris Malaguzzi vom Raum als dem – nach dem Pädagogen und den Mitschülern – dritten Lehrer machte wieder die Runde. Architekten fragten sich, ob Schulen in Form- und Farbgebung animierend gestaltet sein oder eher einen zurückhaltenden räumlichen Rahmen für das Lernen bilden sollten. Sie lernten aber auch, mit Pädagogen darüber zu diskutieren und Schülern und Schülerinnen sowie Eltern nach deren Meinung zu fragen – soweit dies möglich war. Denn eigentlich waren ja die Bauämter der Kommunen ihre Gesprächspartner – und dort fürchtete man zu viele fachfremde Akteure, deren Mitwirkung den Planungsprozess eher verzögern als optimieren würde. In der Bundesregierung wiederum erkannte man nach dem PISA-Schock einen eklatanten Investitionsstau und stellte Geld für die Instandsetzung der Schulen zur Verfügung – nicht aber für neue pädagogische Ansätze. Denn inhaltlich sollte Bildung weiterhin Ländersache bleiben. Doch das Bildungswesen brauchte dringend pädagogische Innovationen. Mit den sich ändernden Verhältnissen in der Arbeitswelt musste sich auch die Lernwelt weiterentwickeln: Die Kinder brauchten eine ganztägige Betreuung, um Eltern bessere und flexiblere Möglichkeiten auf dem Arbeitsmarkt zu verschaffen. Zugleich brauchten sie auch eine andere Vorbereitung auf ihr eigenes Arbeitsleben – und zwar eine andere Art des Wissens, das sie sich im besten Fall selbst erarbeiten können und eine Schule, die ihnen die Werkzeuge dafür mit auf den Weg gibt.

Zoniertes Atrium als zentraler Aufenthalts- und Lernbereich der Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule in Wolfsburg, entworfen von Die Baupiloten.
„Ruhige Riesenwiese“ – Collage als Inspiration für das Atrium der Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule in Wolfsburg.
Schaubild einer vierzügigen integrierten Sekundarschule mit dreizügiger Sekundarstufe II – „Berlin baut Bildung“, Facharbeitsgruppe Schulraumqualität.
Raum-Funktionsdiagramm : Auswertung aus den Planspielen.

Wissen und Architektur
Diese grundlegende strukturelle Veränderung brachte es mit sich, dass es in den Diskussionen nicht nur um Pädagogik, sondern auch um Architektur ging. Denn Schulen, die auf einen Ganztagesbetrieb umstellen wollten, brauchten nun nicht nur Kantinen, sondern auch Aufenthaltsräume, in denen die Schüler ihre Freistunden verbringen können. Ihre nun deutlich längere Anwesenheit in der Schule bedingte auch jenseits des Sportunterrichts Möglichkeiten zur körperlichen Bewegung in Innen- und Außenräumen. Schulen wurden also immer mehr zum Lebens- statt Lernumfeld. Viele Pädagogen wünschten sich, den Schülern mehr Möglichkeiten zum gemeinsamen und gleichzeitig individuellen Lernen einzuräumen. Die Schüler sollten vor allem in der Lage sein, eigenständig, selbstverantwortlich und selbstorganisiert zu lernen und nicht nur wie durch den sogenannten „Nürnberger Trichter“ Wissen in sich aufzunehmen. Sie sollten nicht mehr ausschließlich auf einem Stuhl am Tisch sitzen müssen, sondern auch liegend, hockend oder stehend lernen dürfen, allein oder in kleineren Gruppen arbeiten und dabei auch die Lernsituationen wechseln können. Begegnung und Kommunikation sollte in diesen neuen Schulen einen höheren Stellenwert haben als zuvor. Eine neue Architektur sollte das ermöglichen. Für Schulen in sozialen Brennpunkten bedeutete dies zudem, die sozialen Unterschiede zu überbrücken und die Kompetenzen im Umgang miteinander zu fördern. Die Schulen sollten ihre oftmals selbstgewählte Isolation aufgeben, ihren Unterricht für Experten aller Arten öffnen, um so gesellschaftliche Entwicklungen direkt abbilden zu können. Auch eine stadträumliche Verzahnung mit dem Umfeld wurde angestrebt, um die Stadt in die Schule oder die Schule in die Stadt zu bringen. Weil damit auch negative Einflüsse wie aggressive parteipolitische Agitation oder Drogenhandel auf die Schule einwirken können, ist diese Art der Öffnung aber auch umstritten.

Raum und Pädagogik
Die klassische „Flurschule“ hatte also scheinbar ausgedient. Es ging fortan um offene, aber strukturierte Lernlandschaften. Ihnen standen in den Bestandsbauten jedoch noch die Wände der Klassenräume buchstäblich im Wege. Doch längst nicht alle Pädagogen waren der Überzeugung, künftig auf den Klassenraum ganz verzichten zu können. Vor allem den jüngsten Schulkindern sollten auch künftig feste räumliche Strukturen Halt geben – so wie ihn auch viele Lehrende in den Klassenräumen fanden. Und es wäre ja auch utopisch gewesen, sämtliche Bestandbauten zugunsten neuer Schulgebäude zu opfern – nicht nur aus ökonomischen, sondern auch aus ökologischen Gründen, Stichwort „Graue Energie“. Zwar ging es Bund und Ländern wirtschaftlich mittlerweile besser als noch um die Jahrtausendwende, und entsprechend wurden die Investitionen in den Schulbau erhöht. Aber ein Füllhorn hielten sie nicht parat.

Neue Schulbauprogramme
Dennoch: Die bestehenden Musterraumprogramme der einzelnen Bundesländer wurden in vielen Fällen umgeschrieben, und in der Folge davon wurden viele bestehende Schulgebäude entsprechend gebaut oder umgebaut. Dabei war eine reine Addition der neu benötigten Flächen nicht sinnvoll. Berlin und Frankfurt setzen im Rahmen der neuen Raum- und Bauprogramme auf modulare Bauweisen. Dadurch konnten Kosten und Zeit gespart werden. Darüber hinaus entwickelten Berlin und München modellhaft Lern- beziehungsweise Lern- und Teamhäuser, um den neuen pädagogischen Anforderungen einen entsprechenden Rahmen zu geben. Sie sind meist dergestalt konzipiert, dass um einen großen Gruppenbereich einzelne (Klassen-)Räume angeordnet sind. Bei Bedarf können sie dem großen Raum zugeschaltet werden.

Empfehlungen und Vorgaben
Zur Sicherung der Schulraumqualitäten richtete Berlin eine interdisziplinäre Facharbeitsgruppe ein. Ich hatte die Gelegenheit, an den Empfehlungen „Berlin baut Bildung“ mitzuwirken. Für Architekten und letztlich auch für die Pädagogen ergeben sich aus diesem Programm neue Freiheiten. Es zeigt aber auch neue Lernkonzepte auf, weist in Diagrammen auf sinnvolle räumlich-funktionale Wechselwirkungen hin und gibt Grundrissempfehlungen. Derartige Empfehlungen oder daraus resultierende Vorgaben sind in den einzelnen Bundesländern durchaus unterschiedlich. Das Bremer Programm schreibt zum Beispiel lediglich Flächenkontingente vor. Nordrhein-Westfalen hat noch nicht mal ein einheitliches Programm – hier sind Städte und Gemeinden als Schulträger selbst verantwortlich.

Ausblicke und Vorbilder
Für Architekten und Pädagogen stellen die neuen pädagogischen Modelle und Anforderungen besondere Herausforderungen dar. Schließlich ging es im Besonderen darum, Orte des Lernens zu schaffen, in denen sich sowohl Schüler als auch Lehrer wohlfühlen und sich mit ihnen identifizieren können. Inspiration dazu lieferte dabei ein Blick über die deutschen Grenzen hinaus nach Dänemark, Norwegen, in die Niederlande und seit einiger Zeit auch nach Großbritannien. Dieser Blick war oft neidvoll, denn dort ließen sich innovative Ansätze in Bezug auf gemeinschaftliches Lernen, das Einbeziehen allgemeiner gesellschaftlicher Entwicklungen in den Schulbetrieb oder architektonische Qualität offenbar leichter umsetzen. Während wir in Deutschland beispielsweise noch immer über die „Flurschule“ diskutieren, scheint sie in Dänemark lediglich als Erinnerung wieder im Diskussionsfeld aufzutauchen, nachdem man schon lange darauf verzichtet hatte, sie überhaupt zu bauen. In Deutschland hingegen muss man weit zurückblicken, will man innovative Beispiele als Vorbild heranziehen: Hans Scharoun, der in Berlin die legendäre Philharmonie oder die neue Staatsbibliothek gebaut hat, war auch im Schulbau richtungsweisend. In Marl und in Lünen entstanden nach seinen Plänen Bauten mit hohem Potenzial. Das Schulgebäude betrachtete Scharoun als eine Art Dorf mit Straßen und Häusern, wobei letztere den Klassen vorbehalten waren. Sie nannte Scharoun „Klassenwohnungen“. In Bielefeld entwarf der Architekt Ludwig Leo mit Justus Burtin, Rudi Höll und Thomas Krebs 1971 eine Laborschule mit offenen Grundrissen und flexiblen Nutzungsbereichen, die tatsächlich erst heute als eine Art Prototyp der neuen Schularchitektur angesehen wird. Sie sehen: So neu sind derlei Gedankenspiele gar nicht.

Das Schul-Visionenspiel: ein Werkzeug, entwickelt von Die Baupiloten.
Spielsituation Schul-Visionenspiel.
Lehrer aus Duisburg erarbeiten die Raumfolgen ihres künftigen Schulgebäudes.

Partizipatives Planen und Bauen
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Partizipation: Die Berliner Schulbauempfehlungen sehen in der Teilhabe aller Akteure am Schaffensprozess eine wichtige Voraussetzung für Innovationen im Schulbau und für seine generelle Entwicklung. Den Architekten hilft die Partizipation der Nutzer, die Entwürfe auf deren Bedürfnisse abzustimmen und sich im besten Fall ein – im Sinne der Soziologin Helga Nowotny – gesellschaftlich robustes Wissen anzueignen. Diesen Weg der Partizipation gehen auch wir mit unserem Architekturbüro „Die Baupiloten“ – schon seit dessen Gründung 2003. Allen unseren Aus-, Um- und Neubauten liegt ein mehr oder weniger intensiver Partizipationsprozess zu Grunde, dessen Prinzip wir mittlerweile auch dann anwenden, wenn wir selbst nicht die später entwerfenden Architekten sind, sondern den Bauherren und den Nutzern helfen, genaue Vorstellungen von ihrer zukünftigen Schule zu entwickeln. Dies ist eine Orientierung, die vor der eigentlichen Bauplanung liegen sollte und auch als „Phase Null“ bezeichnet wird, da sie vor den in der Honorarordnung (HOAI) festgelegten Leistungsphasen stattfindet.

Partizipation Macht Architektur
Unsere Arbeit auf diesem Gebiet hat ergeben, diesen Prozess in mehreren Schritten durchzuführen: Am Anfang eines solchen Verfahrens steht eine „Visionen-Werkstatt“, in der sich die Beteiligten – unabhängig von architektonischen Vorstellungen – Gedanken darüber machen, in welcher (Um-)Welt sie arbeiten, lernen oder eben leben wollen. In einem zweiten Schritt, einer „Weiterdenken-Werkstatt“ soll dann über konkretere Fragen zur Verwirklichung des Projektes – wie funktionale und programmatische Beziehungen und Synergien der einzelnen Nutzungen – nachgedacht werden. Zum Beispiel ergeben sich hier dann Nutzungskombinationen oder Verbindungen, die eine Optimierung der später zu entwickelnden Grundrisse ermöglichen – und zwar so, dass es nicht zu vermeidbaren Komplikationen kommt. Es folgt der architektonische Entwurf, der mit der partizipativen Arbeit eine tragfähige Grundlage für das Funktionieren der Schule oder der jeweiligen Einrichtung liefern soll. Für die Heinrich-Nordhoff-Gesamtschule in Wolfsburg erarbeiteten wir in einem Workshop die Vision einer „ruhigen Riesenwiese“ als eines idealen Orts zum Lernen. Daraus entstand dann eine komplexe und vielfältig nutzbare Lernlandschaft mit der ruhigen und entspannenden Atmosphäre, mit vielen Bezugspunkten und Assoziationen zum ursprünglichen Bild der Lernwiese.

Miteinander arbeiten
Für die Teilhabeverfahren hat unser Büro vielfältige Werkzeuge entwickelt, die in meinem Buch „Partizipation Macht Architektur“ anschaulich vorgestellt werden. Einige unserer Methoden werden auch in der Broschüre der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie „Partizipation im Schulbau“ reflektiert. Wichtig für ein solches Verfahren ist, dass wirklich alle entscheidenden und interessierten Akteure einbezogen werden und sich an diesem Prozess kontinuierlich beteiligen. Außerdem muss Einigkeit über die Rahmenbedingungen beziehungsweise über den Gegenstand der Verhandlungen herrschen. Die Verfahren sollten überdies effektiv sein, schnell Entscheidungen herbeiführen und nicht in endlosen Diskussionen verloren gehen. Eines der Baupiloten-Instrumente zur Vision- oder Wunscherforschung ist das Planspiel. Besondere Bedeutung hat dabei das mit Unterstützung der Hans Sauer Stiftung entwickelte Schul-Visionenspiel, das mittlerweile in einer kleinen Serie aufgelegt wurde. In nur 100 Minuten und 17 Schritten werden in diesem Spiel die unterschiedlichen Bedürfnisse aller Nutzergruppen im Dialog mit Politik und Verwaltung spielerisch erkundet, Prioritäten verhandelt und zu einer gemeinsamen räumlich-pädagogischen Programmierung für die Schule zusammengebracht. Das Ergebnis bietet eine Raumbedarfsanalyse und zeigt Nutzerwünsche sowie Funktionszusammenhänge der zukünftigen Schule auf. Dieses Spiel haben wir in vielen Fällen bereits erfolgreich eingesetzt.

Zum Schluss
Am Ende stellt sich allerdings die Frage, wohin die Dis­kussionen um den Schulbau und die Bemühungen um Reformen der vergangenen Jahre geführt haben. Noch macht der Blick ins Ausland neidisch. Ich muss dem Kollegen Andreas Krawczyk von NKBAK zustimmen, wenn er es aufgrund einer hohen „Bedenkenskultur“ für unmöglich hält, den vielen positiven Beispielen aus dem Ausland zu folgen. Sicherheiten scheinen hier nun mal wichtiger zu sein als Innovationen. Auch Thorsten Erl hat Recht, den Olaf Bartels in einem Beitrag für die „Bauwelt“ mit den Worten zitiert: „Wir haben kein Problem, Ziele zu formulieren. Wir haben ein eklatantes Umsetzungsproblem!“ Vielleicht brauchen wir einfach mehr Mut für neue Ideen.

In Gruppen und unter Anleitung diskutieren die Lehrer die Bedürfnisse und Anforderungen an ihre Räume.

Prof. Dr. Susanne Hofmann

Prof. Dr. Susanne Hofmann
geboren 1963 in Bad Kissingen, DE
studierte Architektur an der Akademie der Bildenden Künste München, der Technischen Universität München und der Architectural Association School of Architecture. Nachdem sie praktische Erfahrung bei renommierten Architekturbüros in Berlin und London gesammelt hatte, gründete sie 2001 ihr eigenes Büro „Die Baupiloten“. Seither ist Susanne Hofmann als Gastprofessorin an verschiedenen Universitäten tätig gewesen und Mitglied in Gremien, die sich inhaltlich mit der Zukunft des Schulbaus beschäftigen. Susanne Hofmann entwickelte mit ihrem Büro unter anderem das „Schul-Visionenspiel“ – ein Verhandlungswerkzeug zur Entwicklung von räumlichen Veränderungen – und wurde dafür vom Bundeswirtschaftsministerium als Kultur- und Kreativpilot 2018 ausgezeichnet.
www.baupiloten.com

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