Die Jahre nach der jüngsten Jahrtausendwende gerieten zu einer hohen Zeit der baulichen Hybris. Und nicht wenige der fleißig veröffentlichten Projekte wurden durch die Nemesis ihrer Bauherren wieder eingeholt. Teil 1 eines Rückblicks auf 50 Ausgaben Portal.
Hybris beschreibt seit der Antike die menschliche Selbstüberschätzung. Nemesis ist in der griechischen Mythologie die Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit. Hybris wie Nemesis sind dabei gern gesehene Begleiterscheinungen jeder Art von Selbstdarstellung. Und Architektur war nun mal schon immer ein perfektes Medium für die Eigeninszenierung. Was für ein Glück: Sonst wäre der Welt so manches Bauwerk mit Geltung entgangen, und die Metropolen wären um Sehenswertes ärmer. Selbstdarstellung ist gewiss eine der wesentlichen Funktionen von Bauten mit architektonischem Anspruch – nicht selten ist sie sogar deren einzige.
Geltungsdrang
Seitdem ein vorantiker Herrscher zum ersten Mal einen Stein auf den anderen legte (oder besser: legen ließ), um seinen Untertanen den eigenen Geltungsanspruch klarzumachen, hat sich nur wenig daran geändert. Was sich gewandelt hat, ist lediglich die schiere Anzahl der Selbstdarsteller und damit auch die Masse der gescheiterten Versuche, seinen Anspruch in architektonisch vorteilhaftem Licht erscheinen zu lassen. Mit dem Ende der Feudalherrschaft sowie ihrer noch überschaubaren Anzahl an potenziellen Bauherren und dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters kam der erste gewaltige „Wachstumsschub“: Wer sich der mittelalterlichen Stadtsilhouetten von Regensburg oder San Gimignano erinnert, der erkennt in den Skylines der Geschlechtertürme den Beweis für den Geltungsdrang der konkurrierenden Familien. Dass die meisten dieser frühen Wolkenkratzer längst verfallen oder zumindest behördlicherseits gestutzt wurden, sollte zu denken geben.
Zweckzusammenhänge
Mit der jüngsten Jahrtausendwende hat sich die Menge der Selbstdarstellungsbauten noch einmal exponentiell entwickelt. Seitdem „Tourismus-Experten“ und „City-Manager“ den Werbewert von auffälliger Architektur entdeckt haben, leisteten sich auch schwäbische Industriedörfer oder ostwestfälische Mittelzentren „ihren“ Stararchitekten. Architektonische Artefakte werden von nun an in wirtschaftlichen oder sozialen Zweckzusammenhängen gesehen und berechnet. Und seit ein monetärer Nutzen von ökonomisierter Architektur nachweisbar erscheint, wächst naturgemäß auch die Zielgruppe aus entsprechend potenten Bauherren rasant.
Symbol oder Mahnmal
Dies ist gut für die Baukultur – vorausgesetzt, das architektonische Werk domestiziert den unbändigen Selbstdarstellungsdrang des Bauherrn und das Thema des Auftraggebers ist wenigstens annähernd so dauerhaft wie sein baulicher Ausdruck. Genau dies wurde allerdings zum Problem so manchen Auftraggebers, dessen Produkt sich als deutlich zeitgeistiger herausgestellt hat als gedacht. Ein religiöses Bauwerk kann jahrtausendelang seinen Zweck erfüllen, ein nationaler Staatspalast kann Symbol für Jahrhunderte sein. Spätestens dann jedoch, wenn das Produkt, dem mittels der Architektur ein Denkmal gesetzt werden sollte, eine allzu geringe Halbwertszeit hat, wird es problematisch, und das Bauwerk wird zum Mahnmal der Selbstüberschätzung.
Paralleluniversen
Beispiele für eine allgemein verbreitete Hybris finden sich reihenweise in den vergangenen 50 Ausgaben der PORTAL. Vor allem die Automobilindustrie sonnte sich im Glanz ihrer Erfolge. Porsche feiert sich mit einem von Delugan Meissl entworfenen Museum und wurde in der Besucherhitliste der Stuttgarter Museen nur durch Ben van Berkels Mercedes-Benz-Museum geschlagen. Konkurrent Volkswagen gab sich gar nicht erst mit einem einzelnen Gebäude zufrieden. Unter Übervater Ferdinand Piëch wurde gleich der Schritt in die urbane Dimension vollzogen. Seine „Autostadt“ sollte nicht nur Museum sein, sondern eine Kommunikationsplattform zwischen den VW-Konzernmarken und den alten, neuen und künftigen Kunden. Und frei nach dem Motto „mia san mia“ legte BMW dann noch eine Schippe drauf. Nicht ein Museum und auch nicht eine Stadt wurde gebaut. Durch Coop Himmelb(l)au entstand eine neue „BMW-Welt“. Dass diese Paralleluniversen höchst erfolgreich sind, steht ganz außer Zweifel. Ihre anspruchsvollen Architekturen werden schließlich von Millionen bevölkert und sind in der Regel die meistbesuchten Attraktionen der jeweiligen Regionen.
Architekturgewordene Wendepunkte
Man darf jedoch gespannt sein, ob sich diese Selbstüberhöhung eines Industriezweigs mit ausgesprochen kurzlebigen Produkten in letzter Konsequenz doch als klassische Hybris herausstellt. Als die ersten Projekte in der PORTAL erschienen, war das Automobil (mit Verbrennungsmotor) noch das alternativlose Transportmittel der Massen. Inzwischen ist die bleischwere Batterie politisch erwünscht, und die stolzen deutschen Autokonzerne hecheln recht atemlos der technischen Entwicklung hinterher. Die antike Göttin Nemesis sitzt womöglich schon in den Startlöchern und sorgt für ausgleichende Gerechtigkeit. Die Anbetungsstätten automobiler Heiligtümer könnten sich in Mahnmale einer untergegangenen Epoche verwandeln oder (um im automobilen Bild zu bleiben) zu architekturgewordenen Wendepunkten einer deutschen Leitbranche, die im letzten Moment „die Kurve gekriegt“ hat.
Ikonographische Gebäude
Doch nicht allein die Autobauer neigten zur Hybris. ThyssenKrupp als letzte verbliebene Unternehmung der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie setzte sich mit der Hauptverwaltung Q1 in Essen (JSWD Architekten) und dem ThyssenKrupp-Testturm bei Rottweil (Werner Sobek und Helmut Jahn) gleich zwei ikonographische Gebäude als Denkmale – nur um kurz darauf zur Rettung des notorisch klammen Stahlkonzerns den Verkauf der hochprofitablen Aufzugssparte zu verkünden.
Springer-Universum
Die Verlagsgruppe Axel Springer SE steht beinahe prototypisch für eine andere, einst stolze Branche. Das deutsche und internationale Verlagswesen samt ihrer Druckereien strotzte jahrzehntelang nur so vor Selbstüberschätzung und musste ihren analogen Hochmut in den neuen digitalen Zeiten dann teuer bezahlen. Anders jedoch die Axel Springer SE, die laut Geschäftsbericht 2018 inzwischen 70,6 Prozent des Umsatzes nicht mehr mit dem raschelnden Zeitungspapier von BILD und Welt macht, sondern mit einer Vielzahl von digitalen Produkten und dieser Konversion zuletzt 84,3 Prozent des bereinigten EBITDA (Gewinns) verdankt. Wer auf „Stepstone“ einen Job gesucht hat und in der Stadt des neuen Arbeitsplatzes via „Immowelt“ eine Wohnung, der schaut auf „idealo.de“, wo er die fehlenden Einrichtungsgegenstände am billigsten bekommt, und steckt damit durchweg im digitalen Universum von Springer. Ob er indes am neuen Wohnort eine Tageszeitung abonniert, ist mehr als fraglich.
Kapitalistisches Symbolbauwerk
Zur „historischen“ architektonischen Hybris von Springer zählt das gleichnamige Hochhaus in Berlin. Von Melchiorre Bega und Gino Franzi aus Mailand mit Franz-Heinrich Sobotka und Gustav Müller aus Berlin entworfen, war der Turm architektonisch wenig bemerkenswert. Haarscharf neben die „Mauer“ platziert, zeigte er den sozialistischen Brüdern im Osten jedoch mit seiner provozierend golden schimmernden Fassade, wo der kapitalistische Hammer hängt. Und der Verleger Axel Cäsar Springer sagte bei der Eröffnung des Turms, dass es sich „nicht lohnt, auf dieser Welt hohe Häuser für Zeitungen zu bauen, wenn man nicht eine Idee hat, die größer ist, als wir alle es selbst sind“. Gemeint war die deutsche Wiedervereinigung, die Springer nie aus dem Auge verlor. Am Ende behielt der Verleger bekanntlich recht. Auch das neue Springer-Gebäude – hoch symbolisch gleich nebenan auf dem Mauerstreifen gebaut – bleibt einem klassisch-utilitaristischen Ansatz treu. Denn das 13-geschossige Gebäude von Rem Koolhaas folgt einer zweckorientierten Ethik. Der zufolge ist eine Handlung (hier das Bauen) genau dann moralisch richtig, wenn der dadurch erzeugte Gesamtnutzen das Wohlergehen aller Beteiligten steigert. Und der Kreis der „Beteiligten“ wurde in diesem Falle bewusst weit gefasst. Neben den Verlagseigentümern und den Kunden zählen explizit die Mitarbeiter und sogar die ganze Stadt Berlin dazu.
Kommunikationsmaschine
Der Metropole will Springer einen spektakulären Innenraum schenken (was eindeutig gelungen ist), der, die städtischen Maßstäbe der Umgebung sprengend, die historische Trennlinie der „Mauer“ nicht einfach überbaut, sondern mit zahlreichen Details erinnerbar hält. Den dort Beschäftigten soll eine in fast alle Richtungen offene Kommunikationsmaschine geschenkt werden, was Koolhaasens niederländischer Kollege Herman Hertzberger mit dem Centraal Beheer in Appeldorn schon in den analogen 1970er-Jahren vorgemacht hat. Und der selbstgestellte Anspruch von Springer könnte kaum größer sein: ein Gebäude zu errichten, das den neuen digitalen Kommunikationsformen und den dadurch veränderten Arbeitsweisen gerecht wird und diese mit geradezu kathedralhaftem Aufwand feiert.
Drohende Nemesis
Dass gerade dieser Anspruch und dessen bauliche Selbstdarstellung eine Spekulation ist, wurde schon während der Fertigstellung deutlich. Die Corona-Pandemie machte aus dem Schlagwort des „nonterritorialen Büros“ eine Realität, deren Dimension den prinzipiellen Bautypus „Office-Gebäude“ völlig neu definiert. Der Bezug des neuen Verlagsgebäudes durch die Mitarbeiter verzögerte sich deutlich. Und auch die stolzen Bürotürme in den Citys von London und Frankfurt waren dank Homeoffice zeitweise derart geleert, dass auch dieser Bauform schon eine Nemesis zu drohen schien.
Autor: Dr.-Ing. Dietmar Danner
ist ausgebildeter Tageszeitungsredakteur, studierte Architektur und wurde mit einer Arbeit über Geschmacksbildungsprozesse in der Architektur promoviert. 25 Jahre arbeitete er als Redakteur bei verschiedenen Design- und Architekturzeitschriften – einen Großteil davon als Chefredakteur / Verlagsleiter von AIT und xia. 2013 verabschiedete er sich in die Selbstständigkeit, gründete mit Architect’s Mind eine eigene Kommunikationsagentur, veranstaltet weltweit Kongresse und Workshops und publiziert erfolgreiche Architektur-Fachzeitschriften.
www.architectsmind.de