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Neulich in ...

Münster

Martje Saljé war als Lehrkraft und Musi­kerin viel unter Menschen. Doch seit 2014 hat sie einen Beruf, der gegensätzlicher kaum sein kann. Als Türmerin von Münster kommt sie wenig unter Leute.

Was hat Sie dazu gebracht, das umtriebige Dasein als Musikerin gegen das ruhige Leben als Türmerin zu tauschen?
Ich habe das Glück, meine Profession als Musikerin in verschiedenen Formationen und Projekten weiterhin ausüben zu können, da ich außer dienstags jeden Abend nur halbtags auf dem St.-Lamberti-Kirchturm bin. Die übrige Zeit bleibt mir für meine geliebte Musik. Die Stelle bietet mir ein regelmäßiges Einkommen, das mir die ersehnte Sicherheit in zwar kleinem, aber verlässlichem Umfang garantiert.

Es gibt nur noch wenige Türmer in Europa. Wie wichtig sind alte Traditionen und Rituale für die moderne Gesellschaft – und ihre Städte?
Traditionen der Vergangenheit und ritualisierte Brauchtumspflege können uns in der Gegenwart wertvolle Identifikationsgrundlage bieten, wenn sie mit Wissen angereichert werden und mit faktenbasiertem Storytelling einhergehen. Ich nenne das gerne Historytainment – das pflege ich auch auf meinem Blog: Menschen für die Geschichte Münsters und die Türmer vor mir begeistern, verschiedene Zielgruppen für geschichtliche Zusammenhänge interessieren.

Die St.-Lamberti-Kirche vom Prinzipalmarkt aus gesehen.
Dieser Ausblick bleibt selbst Martje Saljé verwehrt.
Martje Saljé in der Turmstube mit ihrem Horn.

Wieso galt Ihr Beruf einst als unehrenhaft?
Das Wort „unehrenhaft“ bezieht sich auf die gesellschaftliche Position der Türmer – im Sinne von „außerhalb der ehrenhaften gottgegebenen Stände“ stehend. Wie der Henker hatte auch der Türmer mit dem Tod zu tun: Er läutete das Totenglöckchen und reinigte die Straße nach Hinrichtungen und nach dem Fischmarkt. Das war vielen Generationen der sogenannten Ständegesellschaft vor uns unheimlich. Gleichzeitig war der Türmer sehr wichtig, wurde doch von ihm erwartet, dass er gewissenhaft Ausschau hielt nach Gefahren wie Bränden oder nahenden Feinden. Diese ambivalente Bedeutung ist sehr interessant und wird in vielen erhaltenen Erwähnungen von Türmern in Zeitungen und anderen Aufzeichnungen deutlich.

Welche Aufgaben haben Sie als Türmerin? Blasen Sie auch ins Horn, wenn die gegnerischen Fans von Preußen Münster in die Stadt einfallen?
Der Fokus liegt heutzutage eher darin, Ausschau zu halten nach Bränden und Feinden. Was ein Feind ist, wurde mir nie näher definiert. Also appelliere ich als Türmerin mit meinen abendlichen Friedenssignalen an alle Fußballfans, den sportlich-friedlichen Fairness-Charakter zu achten! Weitere Punkte sind Recherchen und Aufbereitung von Historie (und Aktuellem) auf dem offiziellen Türmerin-Blog im Internet – das meinen Vorgängern natürlich noch nicht zur Verfügung stand.

Und welche Rolle spielt Ihr Beruf im Stadtmarketing? Touristen treffen Sie ja im Gegensatz zu Ihrem Kollegen – dem Nachtwächter – selten bis gar nicht.
Zudem bin ich aber ansprechbar für die internationale Medienlandschaft in allen türmerischen Belangen. Ich bin eines der vielen Mosaiksteinchen des bunten Bildes aus Tradition und Moderne in Synergie, das Münster der Welt zu bieten hat.

Halten Sie auch zwischen den halbstündigen Signalen Wache? Oder verbringen Sie die Zeit mit anderen Aufgaben, die zum Dasein als Türmerin gehören?
Im Sommer und auch sonst bei guter Sicht beobachte ich gerne die vielfältigen Eindrücke rund um St. Lamberti. Mit dem Fernglas kann ich auch Entferntes nah heranholen, jeden Abend gibt es Neues zu entdecken. Zwischen den Signalen widme ich mich auch der Recherche und dem Artikelschreiben. Manchmal sind auch angemeldete journalistische Gäste oder Staatsgäste kurz auf dem Turm, denen ich gerne Rede und Antwort stehe.

Was ist das Ungewöhnlichste, was Sie bisher vom Turm aus beobachtet haben?
Ein ganz junger Turmfalke, der direkt vor mir auf der Brüstung der Turmgalerie saß und mir seelenruhig und neugierig beim Tuten zuschaute – so ein wildes Tier aus nächster Nähe zu sehen berührt mich zutiefst.

Von welchem anderen Turm würden Sie gerne einmal ins Horn blasen?Store Torungen – das ist einer der beiden Leuchttürme der norwegischen Stadt Arendal (wo ich als Kind oft war). Die Nebelhornanlage dort ist noch intakt, aber ich fände es außerordentlich klasse, das Nebelhornsignal einmal durch das alte Türmerhorn zu ersetzen, das ja ebenfalls oft mit einem Nebelhorn verglichen wird!Sie haben einen guten Überblick über die Stadt Münster. Was sind Ihre Lieblingsorte?Ich liebe den Ausblick, und jede Richtung hat etwas ganz Besonderes. Im Süden sehe ich den Prinzipalmarkt, im Westen den Paulusdom – zwischen seinen beiden Türmen das Fürstbischöfliche Schloss –, im Norden die Apostelkirche, dahinter die Seniorenresidenz, an deren Fenstern mir manch einer abends winkt. Im Osten erfolgt traditionell kein Signal, dafür liegt dort die architektonisch fabelhaft inszenierte Stadtbücherei mit ihren beiden schiffähnlichen Teilen, verbunden durch eine schwebende Brücke – und dahinter die Skulptur der „Überfrau“, die grüßend den Arm hebt.

Sie arbeiten in einem der schönsten historischen Gebäude der Stadt. Wie ist Ihr Bezug zur modernen Architektur?
Ich interessiere mich als Laie sehr für Architektur, auch für die moderne. Ein Kollege von mir ist Gästeführer und kennt sich viel besser aus, von ihm lerne ich immer wieder erstaunliche Dinge. Ein Beispiel für gelungene, ungewöhnliche moderne Architektur ist meiner Meinung nach die Stubengasse, beziehungsweise sind es die kleinen Häuser oben auf den Geschäftsgebäuden, klasse! Zur Perfektion fehlt dort noch ein Wasserspiel, ein kleiner Trevi-Brunnen. Kürzlich hörte ich von einem Entwurf eines Architektenteams, oben auf dem Stadthaus 2 am Ludgerikreisel eine Art UFO zu installieren, samt Restaurant und Außenfahrstühlen. Ob das realisiert wird, wird sich zeigen! Ich fänd’s super.

Abgesehen von neugierigen Journalisten bekommen Sie auf dem Turm selten Besuch. Dürfen Sie wenigstens Silvester dort oben in Gesellschaft verbringen?
Der letzte Tag des Jahres ist der Ausnahmetag, an dem ich – mit Stadt und Kirche abgesprochen – ausgewählte Familienmitglieder und Freundinnen und Freunde einladen kann. Eine Küche gibt es hier oben nicht, deshalb empfehle ich meinen raren Gästen, Snacks, Fingerfood, leichte Sachen mitzubringen. Die Friedenssignale werden jedoch nicht vernachlässigt.

Die Stadtbücherei von Bolles+Wilson wurde 1993 fertiggestellt.
Einfamilienhäuser auf dem „Dachgeschoss“: Wohnungsbau von Kresings.

Martje Saljé

Martje Saljé
geboren 1980 in Bremen, DE
studierte an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg Geschichte und Musik, Atem-, Sprech- und Stimmbildung. Anschließend arbeitete sie als Lehrkraft an verschiedenen Schulen und hatte viele internationale Engagements als Musikerin. Nach einem beruflichen Abstecher nach Berlin bot sich 2014 die Chance auf einen Arbeitsplatz mit Aufstiegs­möglichkeit (300 Stufen) bei der Stadt Münster – als Türmerin. Parallel dazu ist sie weiterhin als selbstständige Musikerin und Sprecherin tätig. Zu ihren Aufgaben zählt auch die Pflege des offiziellen Türmerin-Blogs sowie ihrer persönlichen Seite, zu finden unter:
www.tuermerinvonmuenster.de
www.martjesalje.blog

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