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Aussichtsreich

Hans Stimmann und Hilde Léon zur Berliner Architektur seit 1991

„Träume haben sich nicht erfüllt, ein wirkliches Desaster ist nicht entstanden“ – sagt die Architektin Hilde Léon. Begeisterung über Berlins Architekturentwicklung sieht anders aus. Eine Bilanz nach drei Jahrzehnten Berliner Architektur seit der Wende.

Berlin vor 30 Jahren: Erst wiedervereinigt, dann zur neuen alten deutschen Hauptstadt erkoren, wurde die einzige echte Weltmetropole des Landes unversehens zur Großchance für Architektur und Städtebau. Doch anders als in Brasilia oder Chandigarh war das Projekt „deutsche Hauptstadt“ kein Neuanfang auf der sprichwörtlichen „grünen Wiese“. Es ging um eine architektonische „Operation am offenen Herzen“ der Stadt. Auch was heute in Berlin entsteht, das ist – im Positiven wie im Negativen – noch immer eine Konsequenz aus den Entscheidungen der frühen 1990er-Jahre. Wer Berliner Bauten betrachtet und bewertet, muss dies stets im Hinterkopf behalten. Und das erste zentrale Schlachtfeld der architektonischen Auseinandersetzung um das „neue Berlin“ war der Wettbewerb um den Potsdamer Platz. Hier wurde erstmals und in aller Härte der Konflikt ausgetragen, ob Berlin eine „moderne Stadtlandschaft“ werden soll – was immer dies auch jeweils bedeutet – oder im Sinne der klassischen europäischen Städte „kritisch rekonstruiert“ werden müsse. Es standen sich gegenüber: auf der einen Seite Architekten wie Libeskind, Günter Behnisch oder Koolhaas – und auf der anderen Seite Mäckler, Kollhoff oder Josef Paul Kleihues. Die Gegner waren verbal hochgerüstet, und der Diskurs fand auf einem Niveau statt, wie es heute kaum noch vorstellbar ist.

Zeitzeugen und Akteure
So spannend die Debatte auch war – so wenig hatten die Protagonisten beider Seiten im Blick, welchen Einfluss längst gefällte Grundstücksentscheidungen und Portfolio-Manager von internationalen Großkonzernen auf städtebauliche Entwicklungen haben. Das heutige Berlin sieht anders aus, als man es sich seinerzeit wünschte. 30 Jahre nach ­der Grund­satzdebatte um Berlins architektonische Zukunft fragte PORTAL zwei damalige Akteure, wie sie die heutigen Resultate bewerten. Hans Stimmann war seinerzeit Senatsbaudirektor und Verfechter der „kritischen Rekonstruktion“. Hilde Léon rückte für den erbost ausscheidenden Juror Rem Koolhaas ins Preisgericht des Wettbewerbs um den Potsdamer Platz nach.

Ausstieg im Nichts: Die S-Bahn-Haltestelle Potsdamer Platz Anfang der 1990er-Jahre.

HANS STIMMANN
Senatsbaudirektor Berlin von 1991 bis 2007

Nach städtebaulichen Wettbewerbsentscheidungen sind kritische Reaktionen die Regel, weil es nicht um die Architektur eines einzelnen Hauses, sondern um die Struktur eines Stadtquartiers und das heißt, um gezeichnete Zukunftsvorstellungen geht. Besonders vehement entbrannte die Kritik nach den Entscheidungen für den die ehemaligen politischen Grenzen überschreitenden städtebaulichen Ideenwettbewerb des ersten gebildeten Gesamtberliner CDU/SPD-Senats für den Potsdamer und den Leipziger Platz. Wichtiges Datum war die Jurysitzung am 1. und 2. Oktober 1991.

Zur Vorgeschichte des Wettbewerbs
Die Teilnehmer sollten dem gespenstisch leeren Ort höchster stadtpolitischer Symbolik eine neue städtebauliche Form für die wiedervereinigte Stadt geben. Eine fast unlösbare Aufgabe, denn die Quellen für das immer wieder gemalte, fotografierte und beschriebene großstädtische Leben am Potsdamer und Leipziger Platz existierten nicht mehr. Es begann mit den Enteignungen und Abrissen durch das NS-Regime für die Achsenplanung. Es folgten die Bombenzerstörungen, die politische Trennung, der Mauerbau und Abrisse berühmter Gebäude sowie in Westberlin die Planungen und Bauten für ein stadtlandschaftlich geprägtes Kulturforum, dessen Verbindung zum Potsdamer Platz durch die Stadtautobahn und Architektur der Staatsbibliothek versperrt war.

Der große Investoren-Irrtum
Als wäre es nicht schon schwierig genug, vor ­diesem Hintergrund etwas Angemessenes zu planen, war der Wettbewerb noch durch den Verkauf eines 62.000 Quadrat­meter großen „Grundstücks“ durch den letzten Westberliner Senat an den Automobilkonzern Daimler-Benz ohne städtebauliches Konzept belastet. Der Verkauf dieses Grundstücks an Daimler-Benz und Sony und etwas später an ABB geschah in dem gesellschaftspolitischen Irrglauben, man müsse zuerst die „Bodenfrage lösen“, um dann mit einem individuellen Investor die Stadt der Zukunft zu realisieren. So entstanden bekanntlich nach 1945 in Ost- und Westberlin die innerstädtischen Quartiere entlang der Leipziger Straße, aber auch das westlich von der Stadtautobahn (Westtangente) gelegene „Kulturforum“. Am Leipziger Platz waren Bodenverkäufe in diesen Dimensionen nicht möglich, da hier nach den Vorgaben des Einigungsvertrags die zuletzt volkseigenen Grundstücke restituiert werden mussten. Zur Bewältigung dieser außergewöhnlichen Ausgangslage reagierte der Berliner Senat im Juni 1991 mit der Auslobung eines städtebaulichen Ideenwettbewerbs für ein 480.000 Quadratmeter großes Areal.

Entscheidung für die europäische Stadt
Das als Antwort auf den Mauerbau entstandene Kulturforum blieb ausgeklammert. Die Jury entschied sich mit 11 zu 4 Stimmen für den explizit auf die Tradition der europäischen Stadt setzenden städtebaulichen Entwurf der Münchener Architekten Hilmer & Sattler. Wesentliche Elemente ihres Entwurfs waren öffentliche Straßen und Plätze sowie eine blockweise Bebauung (50 mal 50 Meter) unter anderem der Großkomplexe von Daimler Benz und Sony sowie eine Rekonstruktion des Leipziger Platzes. Zum Siegerentwurf gehörte eine neue Raumfolge, bestehend aus dem Leipziger und dem Potsdamer Platz sowie der als Boulevard gedachten neuen Potsdamer Straße, die das Kulturforum einbinden sollte. Aus dem Rennen war damit nicht nur der von den Großinvestoren am Potsdamer Platz als Alternative in Auftrag gegebene Entwurf des Londoner Architekten Richard Rogers, sondern auch die Wettbewerbsentwürfe der Architekten Daniel Libeskind sowie Will Alsop und Jan Störmer, die sich eher an der Stadtlandschaft mit Objekten des Kulturforums und weniger an der Tradition europäischen Städtebaus mit geschlossenen öffentlichen Räumen orientierten.

Endstation: Reste der 1989 bis 1991 in Betrieb befindlichen Magnetbahn. Links das Weinhaus Huth.
Wenige Jahre später: links der Kollhoff-Tower (1999) von Hans Kollhoff und rechts der Bahntower (2000) von Murphy/Jahn Architects.

Die „Berliner Architekturdebatte“ beginnt
Diese Jury-Entscheidung lieferte den Anlass für die sogenannte „Berliner Architekturdebatte“. Dabei ging es im Kern aber gar nicht um Architektur, sondern um die Frage, ob im Zeitalter digitalisierter Kommunikation traditionelle Straßen und Plätze eine Rolle spielen und wenn ja, welche, und ob dabei die Sehnsucht nach Schönheit und Verankerung in der Geschichte nicht automatisch zu provinzieller Stadtkulisse führen müsse. Einen wichtigen Hintergrund für die polemische Debatte der Wettbewerbsergebnisse bildete die von der FAZ und dem Frankfurter Architekturmuseum von Oktober 1990 bis April 1991 organisierte Ausstellung mit dem Titel „Berlin morgen“. Sie hatten nach eigenem Anspruch 17 der weltweit besten Architekten eingeladen, darunter Zaha Hadid, Daniel Libeskind und Herzog & de Meuron, „Ideen für das Herz einer Großstadt“ ohne die Restriktionen einer Ausschreibung zu liefern. Die gezeigten avantgardistischen Vorschläge bildeten für viele den Maßstab für die Kritik am preisgekrönten Projekt von Hilmer & Sattler.

Beziehungslose Stadtbrocken entstehen
Verschärft wurde die Debatte nach Abschluss des Wett­bewerbs weiter durch die in schneller Folge organisierten Realisierungswettbewerbe der Investoren Daimler-Benz, Sony und ABB. Sie kämpften für weniger städtebauliche Restriktionen und geringere Wohnanteile. Der schließlich im Dezember 1991 erzielte politische Kompromiss zwischen Senat und Investoren reduzierte den städtebaulichen Entwurf von Hilmer & Sattler auf den Status einer „flexiblen Richtlinie“ für ein Kerngebiet mit 20 Prozent Wohnanteil. Sieger bei den Investorenwettbewerben wurden Renzo Piano, Helmut Jahn und Giorgio Grassi. Das, was auf den Grundstücken der Investoren schließlich gebaut wurde, waren auf sich selbst konzentrierte kompakte Stadtbrocken ohne Bezug zur viel beschworenen Geschichte des Ortes, nur zusammengehalten durch ein unterirdisches Tunnel- und Erschließungssystem mit mehrgeschossigen Tiefgaragen als gebaute Verbeugung vor den Ansprüchen der autogerechten Stadt. In ihren architektonischen Auftritten unterscheiden sich die Quartiere allerdings erheblich. So vermied Jahns Entwurf für Sony jeden Bezug zum Ort und zu seiner Geschichte. Aus der Ferne betrachtet stellt lediglich der ellipsenförmige Schirm des Daches eine architektonische Verbindung zur Philharmonie her. Der raffiniert gestaltete überdachte Innenraum verbreitet die Atmosphäre eines Raumschiffs und wendet sich demonstrativ von der eigentlich als Boulevard geplanten neuen Potsdamer Straße ab. Auch die von Piano entworfenen Strukturen ignorieren die Potsdamer Straße. Sie konzentrieren sich auf die vom Durchgangsverkehr befreiten Fragmente der Alten Potsdamer Straße, die in einem gut gemeinten Zitat traditioneller Stadtvorstellungen einer „Piazza“ abrupt endet. Der hier geplante Durchgang durch die Staatsbibliothek ins Kulturforum wurde von der Stiftung Preußischer Kulturbesitz abgelehnt. Hinzu kommt, dass Pianos Interpretation eines offenen Straßensystems durch den Einbau einer in Nord-Süd-Richtung ausgerichteten provinziellen ECE-Shopping-Mall zerstört wurde.

Gebrochene Versprechen der Konzerne
Durch diese die öffentlichen Straßenräume ignorierende Shoppingwelt wurde die preisgekrönte Vorstellung von der „kompakten, räumlich komplexen europäischen Stadt“ zur Karikatur. So bleiben die Besucher des Kulturforums, räumlich getrennt von der neuen Welt der Bürodienstleistungen, des Einkaufens, des Films, der Unterhaltung und des Wohnens, unter sich. Dazu gehört auch, dass die international operierenden Industriekonzerne Daimler, Sony und ABB sich von ihrem Versprechen, den Potsdamer Platz als besonderen Konzernstandort neu zu erfinden, längst verabschiedet haben.
Dass das gebaute Ergebnis des Wettbewerbs nicht als eine Ansammlung von Stadtbrocken empfunden wird, liegt vor allem an dem rekonstruierten Leipziger Platz. Hier entstanden auf privaten Grundstücken von verschiedenen Architekten Bürobauten mit dem vorgesehenen Wohnanteil und auf dem Standort des legendären Wertheim-Warenhauses von Alfred Messel eine Shopping-Mall. Mit dem gerade fertiggestellten Bürogebäude, leider ohne Wohnanteil (Architektin Hilde Léon), an der Nord-West-Ecke ist damit 30 Jahre nach der Jury-Entscheidung aus dem Areal für Architekturdebatten ein Teil Berlins mit einer eigenen Geschichte geworden.

Großgrundstücke als Handicap
Grundstückseigentümer sind heute international operierende Immobilienfonds. Die jetzigen Eigentümer sind nun damit beschäftigt, ihre Areale zu modernisieren. Dieser Prozess vollzieht sich aber ohne öffentliche Architekturdebatten und vor allem in den Zwängen der infrastrukturell zusammenhängenden Großkomplexe. Hier erweisen sich die Grundstücksverkäufe der frühen neunziger Jahre als ein schwer zu überwindendes Handicap. Noch schwieriger gestaltet sich die Einbeziehung des durch die neue Potsdamer Straße geteilten Kulturforums. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens der Vorschlag für einen zweiten Eingang der Staatsbibliothek zur Alten Potsdamer Straße in den nächsten Jahren realisiert wird. Es wäre ein erster Schritt, um die Grenzen des städtebaulichen Wettbewerbs von 1991 endlich zu durchbrechen.

Der Durchgang zur Bibliothek – nur gibt es dort keinen Eingang.
Hans Stimmann

Hans Stimmann
geboren 1941 in Lübeck,
ging zunächst in die Lehre als Maurer und studierte danach an der Fach­hochschule Lübeck Architektur. Anschließend ging er nach Berlin, um dort an der Technischen Universität Stadt- und Regionalplanung zu studieren und zu promovieren. Erfahrung in der Praxis sammelte Hans Stimmann in Frankfurt am Main und in Berlin. Nachdem er von 1986 bis 1991 Bau­senator in seiner Heimatstadt Lübeck war, ging er erneut nach Berlin, dieses Mal als Senatsbaudirektor und Staatssekretär, als der er bis 2007 tätig war. Seit 2007 ist Hans Stimmann Honorarprofessor am Institut für Stadtbaukunst der TU Dortmund. Im Laufe der Zeit veröffentlichte er zahlreiche Bücher zur Architekturentwicklung, zum Städtebau, zur Gartenkunst und zur Planungs- und Baupolitik.


HILDE LÉON
Jurorin im Wettbewerb um den Potsdamer Platz


Ja, diese Diskussion in Berlin über die „Europäische Stadt“ samt ihrer Ergebnisse gehört zur Berliner Planungs­geschichte der 1990er-Jahre – und in der Tat hat diese Auseinandersetzung ihren Ausgang in dem ersten städtebaulichen Wettbewerb zum Potsdamer Platz 1991 genommen. In der ersten Phase ging es noch um grundsätzliche Ideen: Hochhäuser oder Blockstrukturen. Hochhäuser am Rande eines erweiterten Tiergartens sollten den Übergang zum vollkommen zerstörten Leipziger Platz prägnant markieren, dessen ursprünglicher barocker Grundriss noch aus der Luftperspektive erkennbar war. Besonders in Erinnerung geblieben sind dabei zwei radikale Beiträge: der Hochhausring am Potsdamer Platz von Hans Kollhoff mit gestalterischen Anklängen an das Rockefeller Center in New York und die schwebenden großmaßstäblichen „Hochhaustierchen“ von William Alsop und Jan Störmer, die den Eindruck machten, als ob sie gleich in den Tiergarten loslaufen wollten. Beide Entwürfe hatten die Ausdehnung des Tiergartens bis zur Barockstadt im Sinn, Kollhoff eben mit einem kräftigen Abschluss von Hochhäusern und Alsop/Störmer mit Objekten im Grünen und eher angelehnt an das Hansaviertel der 1950er-Jahre. Übrigens war Hans Kollhoff damals der einzige, der über den Ort hinaus den Schlag bis zum Alexanderplatz städtebaulich als zweites Hochhausquartier im Osten andachte. Später war das Büro Kollhoff beim Wettbewerb am Alexanderplatz mit seinem Hochhaus-Blockquartier erfolgreich.

Die Stadtwerdung hat sich nicht ergeben
Doch in der ersten Phase 1991 am Potsdamer Platz konnte sich gegen einigen Widerspruch im Preisgericht der moderat harmlose Städtebau mit Blockstrukturen von Hilmer & Sattler durchsetzen, der dann in einer zweiten Phase mit Renzo Piano als Preisträger leicht geschärft und schließlich bestätigt wurde: Blockstrukturen im Mittelteil sowie Hochpunkte am Potsdamer Platz und am Landwehrkanal. Aus dieser zweiten Planungsphase ging auch der Teilnehmerkreis der deutschen und internationalen Architekten hervor. Nun, mit einem Abstand von 30 Jahren, muss man konstatieren: Träume haben sich nicht erfüllt, ein wirkliches Desaster ist nicht entstanden, dennoch bleibt nach wie vor wenig Stadt, auch wenn die Volumina und die Stadträume vorgeben, Stadt sein zu wollen. Die prognostizierte Stadtwerdung hat sich eben genau nicht ergeben, und das liegt weniger an der Architektur oder am Städtebau, sondern primär an der einfältigen Nut­zung: Einkaufsmall, Kinos, Hotelkomplexe, teure und minimale Zweitwohnungen, Bürokomplexe. Es fehlt einfach der „Humus“ von Normalität, von sozialer Mischung, von sozialem Leben an diesem Ort. Es bleibt eine isolierte Luxusperipherie, abgeschnitten von der übrigen Stadt. Natürlich wissen wir, dass Stadtwerdung Jahrzehnte braucht, vielleicht auch einiger Insolvenzen bedarf, damit Neuerungen in der Nutzung eine Chance bekommen und dieses Quartier langsam zum Leben erweckt wird. Doch auch nach 30 Jahren ist der Ort traumlos und kommt einem Desaster vielleicht doch ganz schön nahe. Die überdeckte Mall der ursprünglich sechs Blöcke ist wirklich ein Albtraum. Nach nur 25 Jahren ist diese Mall obsolet, nahezu eine Bauruine. Nicht einmal die Berliner Kids hängen auf der Empore ab. Die ehemalige Eisdiele, einst mit einem Hauch von Leben umgeben, gibt es nicht mehr. Die immer gleichen Geschäfte sind zur Mall of Berlin am Leipziger Platz abgewandert. Auch der ganze Komplex mit Kino und Casino im Rücken der Nationalbibliothek von Hans Scharoun bringt einen zum Weinen. Dieser Ort lebt einmal im Jahr zur Berlinale auf und ist im Innern so mies billig gebaut, dass sich Renzo Piano sicherlich dafür schämt, sollte er das Theater am Potsdamer Platz überhaupt je in Augenschein genommen haben.

Der Siegerentwurf von Heinz Hilmer und Christoph Sattler ...
... und der viertplatzierte Entwurf von William Alsop & Jan Störmer.
Trotz zahlreicher Proteste im Jahr 2000 abgerissen: die Gaststätte Ahornblatt.

„Man hätte das nicht zulassen dürfen“
Man hätte das von Anfang an nicht zulassen dürfen. Selbst Hans Stimmann als Senatsbaudirektor konnte das nicht verhindern. Die Bauherren von Daimler-Benz (DEBIS) haben die Stadt und die Planer dermaßen zeitlich, inhaltlich und ökonomisch unter Druck gesetzt, dass alle international anerkannten Architekten dort eines ihrer schwächeren Werke realisiert haben. Was sich in der Tat gut hält, ist das Gegenüber zum Leipziger Platz mit dem Dreispitz der Hochhäuser von Renzo Piano, Helmut Jahn und Hans Kollhoff. Dieses Trio prägt auch mit seiner unterschiedlichen Architektursprache das Stadtbild des Potsdamer Platzes positiv, man darf nur nicht weiter zwischen den Blöcken vordringen: Dort bestimmen gähnende Leere und ausgestorbene Straßenräume das Bild. Die Spitze des Potsdamer Platzes liegt in der Stadt, sie ist wahrnehmbar und in unmittelbarer Nähe vom Leipziger Platz gut angebunden.

Letzter Baustein
Bereits in dieser ersten Phase 1991 wurde von den Preis­trägern Hilmer & Sattler das barocke Oktogon des Leipziger Platzes in seiner Outline wiederhergestellt, überzeugend in seinen Abmessungen mit den beiden stadträumlich markanten horizontalen Linien, der historischen Höhe von 20 Metern und der zurückgesetzten dreigeschossigen Aufstockung auf 30 Meter. Hier bestätigt sich, dass eine starke städtebauliche Figur über mittelmäßige Fassaden der 1990er-Jahre hinwegzusehen hilft. Denn die Fassadenabwicklung entlang der mehrfach geknickten Platzwand ist mäßig, mittelmäßig. Nun durften wir als léonwohlhage Architekten den letzten Baustein am Übergang zum Potsdamer Platz realisieren. Auch wir haben uns auf den Kontext der Gesamtfigur eingelassen: steinern, Lochfassade und den Schwerpunkt auf Rhythmus, Proportion und eben auf die Materialität gelegt, mit großflächigen Betonelementen statt kleinteiliger Natursteinplatten. Wir akzeptieren, Teil des Ganzen zu sein, denn die Prima Donna ist und bleibt eben die starke Figur des Leipziger Platzes. Die einzelnen Gebäude sind die Mitspieler des Orchesters. Unser architektonisches Plädoyer ist kraftvolle Großzügigkeit in der vorgegebenen Hülle.

Der Blockrand als Obsession
Was am Leipziger Platz und an der Spitze des Potsdamer Platzes im stadträumlich historischen Kontext Sinn machte, wurde an anderer Stelle dieser Stadt zur Obsession. Man kann am Planwerk Innenstadt (ab 1996) studieren, wie der städtebauliche Rundumschlag gedacht war. Er betraf eben nicht nur das historische Zentrum der Stadt, sondern rigoros sollte jede Ecke, jede Blockkante geschlossen werden, auch wenn es diese Ecke gar nicht mehr gab. Die radikale Zerstörung der historischen Altstadtstruktur von Alt-Kölln, der Fischerinsel, wurde zwischen 1969 und 1973 zugunsten von sechs Hochhäusern mit 21 Stockwerken realisiert. Entsprechend dem Planwerk Innenstadt gab es Überlegungen, das Wohngebiet Fischerinsel nachzuverdichten. Ungeachtet der Hochhausstruktur sollten zusätzliche Gebäude als Blockrandbebauung entstehen, dort, wo eben noch Platz gewesen wäre. Da kollidierte der DDR-Städtebau mit der krampfhaften Blockbildung. Aber Bestand entwickelt manchmal zum Glück eine gewisse Widerstandskraft. Das Planwerk blieb Plan. Dennoch wurden erhaltenswerte Gebäude wie beispielsweise das expressionistische Ahornblatt von 1969 im Jahr 2000 unter dem ignoranten Nachwendepragmatismus zum Abriss freigegeben. Ein letzter Kampf für eine Konsolidierung einer homogenen „Europäischen Stadt“ wurde in Berlin-Mitte vor dem Roten Rathaus aufgefahren. Dies konnte mit der öffentlichen Diskussion und der Entscheidung für eine öffentliche Freifläche verhindert werden. Dazu gehörte die aberwitzige Idee, den Fernsehturm in den Hinterhof zu verbannen und den originalen Neptunbrunnen wieder zurück vor das neu aufgebaute Schloss zu transferieren. Wenn überhaupt, könnte man einen zweiten identischen Brunnen entstehen lassen: das Original am falschen Platz und der Nachbau am originalen Schauplatz. Das hätte wenigstens eine Logik von Original und Nachbau, von Rekonstruktion und Original. Denn im sichtbaren Gegenüber vom nachgebauten Schloss steht im ehemaligen Staatsratsgebäude ein letzter originaler Fassadenausschnitt des Schlosses.

Anerkennung des DDR-Städtebaus
Mit der Senatsbaudirektorin Regula Lüscher (2007-2021) hat sich die Sicht auf den DDR-Städtebau geändert und wird differenziert betrachtet. Die Marienkirche, der Fernsehturm, das Marx-Engels-Denkmal und eben auch der Neptunbrunnen sind starke Elemente einer Freifläche, die in ein neues Konzept von Freiraum integriert werden. Hierzu sind die Ergebnisse in dem jüngst entschiedenen (Juli 2021) Freiraumwettbewerb Rathausforum zu begutachten. Auch unter dem großen Einfluss der Denkmalpflege konnten sich in dem ersten Rang (1. Preis: RMP – Stephan Lenzen) nur Landschaftsarchitekten durchsetzen, die behutsam den Bestand konsolidierten. Will man radikalere Lösungen einer Freiraumentwicklung an diesem Ort analysieren, muss man sich zu den weiteren Wettbewerbsbeiträgen vorarbeiten (www.stadtentwicklung.berlin.de/aktuell/wettbewerbe). Auch schade!

Letzter Baustein des Oktogons Leipziger Platz: ein Entwurf von léonwohlhage.
Auch von léonwohlhage: Solitär an der Jannowitzbrücke statt Blockschließung.

Einbeziehung öffentlicher Diskussionen
Die differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen und widersprüchlichen Layer einer Stadt wie Berlin, deren heutige städtebauliche Figur so starke politische Ursprünge und Brüche hat, war nicht das „Ding“ von Hans Stimmann und seinen Buddies, dafür musste erst seine Nachfolgerin, die Schweizerin Regula Lüscher kommen, um mit einem neuen Blick und unter Einbeziehung öffentlicher Diskussionen das städtebauliche und architektonische Erbe der DDR mit einbeziehen zu können. Die zutiefst gespaltene Stadt, das Berlin der 90er-Jahre, konnte so ansatzweise austariert werden. Und dieser Haltung verdanken wir, dass eine zentrale Idee des weiten und öffentlichen Raums mit dem Fernsehturm und der Monumentalfigur von Marx/Engels am Roten Rathaus nicht im Hinterhof verschwindet, sondern als neuer Freiraum in Erinnerung an Zerstörung und Krieg und den Städtebau der DDR erhalten bleibt.

Mehr Architektur und sozial integrativ
Die größeren Bebauungsfelder im Berliner Innenstadtbereich sind weiterhin im Senatsbeschluss von 1999 markiert, doch die architektonischen und stadträumlichen Akzente wurden neu bestimmt, wie beispielsweise beim Lokschuppen von ROBERTNEUN Architekten oder der Lehrter Straße von Sauerbruch Hutton. Wohnungsbau, auch sozialer, steht wieder auf der politischen und planerischen Agenda. So geht es inzwischen weniger spektakulär zu, dafür allerdings kleinteiliger, diskursorientierter, partizipativer und damit sozial integrativer. Die verschiedenen architektonischen und stadträumlichen Haltungen stehen inzwischen gleichmütiger nebeneinander und werden eben von Fall zu Fall präziser definiert. Nun ist auch diese Phase abgeschlossen, jede zukünftige Bausenatorin oder jeder Bausenator wird neue Akzente setzen müssen. Wir diskutieren weiter.

Hilde Léon
geboren 1953 in Düsseldorf,
studierte Architektur in Berlin und Venedig. 1987 gründete sie mit Konrad Wohlhage († 2007) das Architekturbüro léonwohlhage in Berlin. In die Lehre war sie an der Universität der Künste in Berlin und der Hochschule für bildende Künste in Hamburg eingebunden, von 2000 bis 2021 als Professorin an der Leibniz Universität Hannover. Das Werk wurde mehrfach ausgezeichnet und umfasst vor allem öffentliche Bauten, Wohnungsbau und Bürohäuser im innerstädtischen Kontext in Berlin und in anderen deutschen Städten.
www.leonwohlhage.de

Hilde Léon
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