Wo der Wohnort noch Heimat ist, wo Familien seit Generationen zuhause sind und Menschen sich mit einer Landschaft identifizieren, da trägt Architektur eine besondere Verantwortung. Die Gemeinde Baiersbronn im nördlichen Schwarzwald ist zu einem Ort der Baukultur geworden. Hier wird die identitätsstiftende Kraft der Architektur beispielhaft eingesetzt.
Das Mordopfer wurde hoch oben im Schwarzwald gefunden. Hier sind die Schluchten besonders tief, die Wälder wirklich sehr dunkel und die Hänge im Winter verschneit. Auch der Heimatort des Toten ist arg entlegen – wie eigentlich alles aus Sicht von Karlsruhe oder Freiburg. Die aus letztgenannter Metropole angereiste Kommissarin Franziska Tobler brachte es deshalb vor Jahren im ersten „Schwarzwald-Tatort“ der ARD auf den Punkt: „Ein Dorf und drei Nachnamen – da isch ja älles gschwätzt“ – oder übersetzt ins großstädtische Deutsch: „Damit ist ja alles gesagt.“
„Respektsgefälle“
Nicht nur die Murgtäler hörten diesen dreisten Hinweis auf einen (angeblich) reduzierten Genpool seinerzeit gar nicht gerne. Schließlich ist dieser Drehbuch-Text ein perfektes Beispiel für jene typisch urbane Herablassung, mit der die „Land-Bewohner“ zuverlässig auf die Palme (oder hier auch die Weißtanne) getrieben werden – und beweist ein deutliches Respektsgefälle vom Land hin zur Stadt. Dass der größere Teil dieser Großstädter übrigens selbst mal auf dem Land geboren wurde, ist Resultat einer seit Jahren anhaltenden Binnenmigration und hat erheblich Auswirkungen auf die städtebauliche Entwicklung und das „Bauen auf dem Land“. (Der Autor ist übrigens selbst gebürtiges Schwarzwälder „Landei“ und darf sich deshalb – zumal als „Rückkehrer“ – einige Bemerkungen über das Leben auf dem Lande erlauben, die den „urbanen Eliten“ auch seiner Meinung nach einfach nicht zustehen.)
Dichtes Netzwerk
Doch zurück zur Frage der Nachnamen: Zugegeben, in den Schwarzwälder Dörfern leben besonders viele Fallers und Wehrles, Ketterers, Winterhalters und Obergfälls. Und in der Gemeinde Baiersbronn trifft der Gast allenthalben auf Finkbeiners. Ein derart dichtes Netzwerk alteingesessener Familien ist nun mal das Resultat der komplexen Topographie und einer jahrhundertelangen Landflucht. Auch im Nordschwarzwald sucht die Jugend traditionell gerne das Weite – doch wer bleibt, der tut es aus Überzeugung. Die schwäbische Gemeinde Baiersbronn kann es ja durchaus mit der Schwaben-Metropole Stuttgart und deren Einzugsgebiet aufnehmen, dessen Rand keine 40 Kilometer Luftlinie entfernt beginnt. Allerdings gilt dies nur in Disziplinen, die für 19-Jährige von eher beschränktem Interesse sind.
Bäume, Sterne und Streben nach Baukultur
Baiersbronn verteilt sich mit seinen tatsächlich 115 Dörfern, Weilern, Zinken und Höfen auf knapp 190 Quadratkilometer im Nordschwarzwald. Nur die Landeshauptstadt ist ein klein wenig größer. Dort drängeln sich auf jedem einzelnen Quadratkilometer mehr als 3000 Menschen. Im Schwarzwald verlieren sich auf derselben Fläche gerade mal 78. Die Agglomeration Stuttgart zählt mit rund 2,7 Millionen zu den dichtesten Siedlungsräumen Europas – in Baiersbronn leben nur 14.741 Menschen, Stand Dezember 2021 und Tendenz fallend (2007 waren es mal 16.080). Was es aber in Baiersbronn so zahlreich gibt wie sonst nirgendwo, das sind Bäume (die meisten in Baden-Württemberg) und Michelin-Sterne (so viele wie sonst nirgends in Deutschland). Und: Es gibt ein höchst bemerkenswertes Streben nach Baukultur.
Leitbild Vorarlberg
Wenn es um das Thema „Bauen auf dem Land“ geht, ist Baiersbronn deshalb ein Paradebeispiel in der „Bundesstiftung Baukultur“. Einerseits, weil es hier so viel Land gibt, wie in kaum einer anderen Region Deutschlands. Andererseits, weil sich (einige) Menschen dort, von der eindeutigen landschaftlichen Dominanz über die bebauten Zonen nicht abschrecken lassen. Baiersbronn ist auf dem besten Weg, ein Ziel für Architektur-Touristen zu werden, und eifert darin dem selbst gewählten Leitbild Vorarlberg nach.
Architecture sells
Der Anlass für dieses Engagement ist mitnichten purer kultureller Altruismus. Es ist die Einsicht, dass das Land mehr tun muss, als immer neue Gewerbegebiete auszuweisen, um per Arbeitsplatzangebot die Bevölkerung im Ort zu halten oder gar Großstädter zum Umzug zu bewegen. Ohne eine echte Identität des Ortes wird beides nicht gelingen. Seit sich eine baskische Hafenstadt und eine ostwestfälische Gemeinde „ihren“ Frank Gehry geleistet haben, ist es Allgemeinwissen: Nicht nur Sex sells, sondern auch exaltierte Architektur. Und dass Architektur auf ganze Regionen touristische Außenwirkung hat, steht spätestens seit der „Tessiner Schule“ fest, die in den 1970er-Jahren zahllose Architektinnen und Architekten in den Süden der Schweiz trieb, um dort die Villen-Bauten von Luigi Snozzi, Livio Vacchini, Mario Botta oder Aurelio Galfetti zu besichtigen – und von dauergenervten Eigentümern mitunter von den Grundstücken gescheucht zu werden.
Key-Visual
Während „die Tessiner“ bevorzugt mit Beton und Stein bauten, entdeckten die Vorarlberger Holz als innovativen Werkstoff eines eher kleinstädtischen oder ländlich geprägten österreichischen Bundeslandes. Zusammen mit der bergigen Landschaft sind die Gemeinsamkeiten zwischen Vorarlberg und Nordschwarzwald nicht zu übersehen. Dass das Baiersbronner Ortsparlament deshalb mehr als einmal in dieses gelobte Land der ländlichen Architektur pilgerte, war also nur naheliegend. Holz ist der traditionelle Reichtum des Schwarzwaldes. Bis hinauf zur Schwarzwaldhochstraße wachsen die Nadelbäume, und die Niederungen sind geprägt von Sägewerken, Papierfabriken und Zimmereien. Tragisch für Baiersbronn ist jedoch, dass der Schwarzwald überreich ist an ikonographischen Bildern. Das typische Schwarzwälder Bauernhaus, mit dem weit über die Außenwände auskragenden Krüppel-Walmdach ist das beinahe erdrückend wirksame „Key-Visual“ dieses Mittelgebirges. Dumm nur, dass die Enttäuschung vorprogrammiert ist, sollten Kurgäste derlei Bauten im Norden des Schwarzwaldes suchen. Sie sind stattdessen typisch für den mittleren Schwarzwald und den Süden. Der Norden kennt eine derart markante Bautradition einfach nicht.
Baukulturelles Weiterbildungsprojekt
Angesichts dieses Mangels wäre das Risiko groß gewesen, mit spektakulären Bauten à la Gehry dagegenhalten zu wollen. Baiersbronn entschied sich stattdessen für einen sanfteren, regional verankerten und in jeder Hinsicht nachhaltigeren Weg. Der Ort machte sich auf, eine Baukultur-Gemeinde zu werden. Die „Evolution von oben“ begann als Initiative der Tourismus-Direktion und des örtlichen Gemeinderates. Sie versucht sich seitdem an einem baukulturellen Weiterbildungsprojekt für die gesamte Bevölkerung – und die ersten realisierten Ergebnisse sind mehr als ermutigend. Die Gemeinde ging mit ihren öffentlichen Projekten voran. Die in der Region sehr bedeutende Hotellerie folgte, und auch private Bauherren erkennen inzwischen, dass anspruchsvolle Gestaltung keineswegs teurer sein muss – aber immer wertvoller ist. Mangels Krüppelwalmdächer und großer Dachüberstände machte man sich auf die Suche nach eigenen, vielleicht nicht ganz so spektakulären, aber dennoch lokal verankerten Bautraditionen. Schließlich wird in Baiersbronn nicht nur eine lokale Variante des Schwäbischen gesprochen. Es existiert auch ein lokaler Architektur-Dialekt, den es von den Überwucherungen des Fix-und-fertig-Baus zu befreien galt. Diese Baudetails sind seitdem Leitmotiv zahlreicher Sanierungen und Neubauten.
Erstaunliche Tiefen
Einflussreich sind vor Ort die mit Michelin-Sternen dekorierten Restaurants und die zahlreichen Spitzen-Hotels. Sie bieten den Gästen zwar höchste gastronomische Qualität, orientierten sich baulich bisher allerdings an einer Art „international Style“ der Tourismus-Architektur. Ein neobarockes Gestaltungsgemenge, das so oder so ähnlich auch in jedem anderen deutschen Mittelgebirge oder in nahezu allen Regionen der Alpen stehen könnte. Der Genius loci des Nordschwarzwalds wurde vergebens gesucht. Doch die Zeiten ändern sich. Den Beginn machte der Hotelier Hermann Bareiss, als er den Morlokhof erwarb – ein uraltes Ensemble aus Haupthaus, Scheune, Backhaus und „Leibgeding“ für die Altbauern. Über Jahrhunderte hinweg war es Wohnort einer Familie von Heilern, die den Bauern nicht nur das Vieh kurierte. Spätestens, als bei der denkmalgerechten Sanierung zwischen den Balken des Hofes Unmengen lateinischer und hebräischer Schriften gefunden wurden, war klar, dass die lokale Bauernkultur erstaunliche Tiefen bietet. Obwohl der Morlokhof nicht das Klischee des Schwarzwaldhauses bedient, wurde daraus ein eindrucksvolles Projekt. Mit der zum Ausbildungszentrum des Hotels umgebauten „Alten Schule“ in Baiersbronn-Mitteltal bewies die Familie Bareiss inzwischen, dass auch das 19. Jahrhundert ortsbildprägende und identitätsstiftende Baukultur bot – zumal die halbe Bevölkerung des Ortes ganz persönliche Erinnerungen mit diesem Gebäude verbindet.
Zeitgenössischer Gestus
Auf dramatische Weise begann beim Hotel „Traube Tonbach“ der Kurswechsel. Am 5. Januar 2020 brannte das rund 230 Jahre alte Stammhaus der Familie Finkbeiner vollständig ab – inklusive des 3-Sterne-Restaurants „Schwarzwaldstube“. Das Stuttgarter Büro ARP realisierte in Rekordzeit den Restaurant-Neubau an gleicher Stelle und unterhalb des eigentlichen Hotels. Die „neue Traube“ ist durchaus typisch für den Baiersbronner Weg. Es wird nicht mehr versucht, Schwarzwald-Kitsch zu bauen. Die Satteldachgebäude sind in zeitgenössischem Gestus und lokalen Werkstoffen gehalten. Das Interieur versucht nicht mehr, den Gerichten auf den Tellern der Spitzengastronomie die Show zu stehlen. Die komplett holzverschindelte Fassade entspricht dem Genius des Ortes.
Lokale Markenzeichen
Das Hotel Sackmann mit dem dritten Baiersbronner Sterne-Restaurant „Schlossberg“ hat inzwischen ebenso nachgezogen wie eine Reihe weiterer Hotels. Vorneweg das 5-Sterne-Hotel Engel, dem das örtliche Büro Partner und Partner Architekten mehrere Chalets als Erweiterung entwarf, die sich ebenso auf die lokale Holzbautradition bezog und darin eine Historie des äußerst geringen Dachüberstandes entdeckte. Die Chalets sind aus massivem, dreilagigem Sperrholz konstruiert und mit örtlicher Weißtanne verkleidet. Deutlich skulpturaler ist ein „Infopoint“ genanntes Kleinbauwerk, das in direkter Nachbarschaft zur Traube Tonbach als Ausgangspunkt für touristische Touren dient.
Die Schindelfassade wird auch hier zum lokalen Markenzeichen. Die Architektur selbst ist deutlich mutiger, denn das kleine, örtliche Büro Asal Architekten traute sich hier etwas mehr. Es realisierte auch gleich vier dieser Kleinbauten. In der Mitte des Hauptortes Baiersbronn steht ein weiterer dieser Infopoints und ein dritter schließlich am Beginn des Lotharpfades an der Schwarzwaldhochstraße. Auf dem Parkplatz des Nationalparks steht ebenfalls eins dieser Häuschen – in dem nur die darin untergebrachten Parkscheinautomaten deutlich stören.
Zahlreiche Ehrungen
Dass es auch auf dem Land durchaus Architekturbüros gibt, die im neu entdeckten Architektur-Dialekt zu entwerfen wissen, zeigt ein Generationen-Wohnprojekt im Hauptort Baiersbronn. Der Rosenpark wurde von Jarcke Architekten aus dem benachbarten Freudenstadt entworfen, und auch innenarchitektonisch gibt es Möglichkeiten, ohne Kuckucksuhren und touristischen Tinnef auszukommen. Betty‘s BonBon Manufaktur bietet die Süßigkeiten aus Eigenproduktion in einem sehr eigenständigen Interieur
aus heimischem Entwurf von Birgit Stiletto.
Dass Baiersbronn auf einem guten Weg ist, beweisen nicht nur die zahlreichen Ehrungen – es genügt schon eine kleine Rundreise durch das weitläufige Areal. Wie auf einer Wiese nach langer Dürre sprießen allenthalben zarte Architekturpflänzchen und beweisen, dass es gelungen ist, die Baukultur in die Breite zu tragen, ohne auf die spektakuläre Wirkung von internationalen Architekturmarken zu setzen.
Natürliches Gleichgewicht
Wo die Waldwirtschaft seit Jahrhunderten Existenzgrundlage ist, da sorgt es für Stirnrunzeln, wenn plötzlich ganze Täler sich selbst überlassen werden sollen. Wenn wertvolle Bäume einfach umfallen. Wenn dieses Totholz Schädlingen als Nahrung dient, die von den Waldbauern bislang mit fast allen Mitteln bekämpft wurden. Mit dem Besucher- und Informationszentrum des Nationalparks soll den Touristen (aber auch den Einheimischen) erläutert werden, wie ein Wald zu seinem natürlichen Gleichgewicht findet. Die ambitionierte Ausstellungsarchitektur von „Kunstraum GfK vivid exhibitions“ aus Hamburg vermittelt mit einer Überfülle an Exponaten, Szenenbildern, Bildschirmen und Mitmach-Elementen, wie das Biotop funktioniert. Die umgebende Architektur wurde von Sturm und Wartzeck als Resultat eines Wettbewerbsgewinns entworfen und ähnelt in der Großform einem leicht ins Rutschen geratenen Stapel von Kanthölzern.
Komplex überlagert
Direkt an der Schwarzwaldhochstraße gelegen, zapft es die internationalen Besucherströme dieser touristischen Hauptschlagader an und empfängt die Gäste zuerst in einer zentralen Halle, in der sich die verschiedenen „Balken“ der Großform äußerst komplex überlagern sollen. Von dort geht es nach dem obligatorischen Einführungsfilm in die dunklen Gänge der Ausstellung, ehe ganz am Ende der Tour eine „Skywalk“ genannte Brücke zum Aussichtsturm beschritten werden kann. Von dort geht der Blick über die waldbedeckten Berge und Täler der schwäbischen Flanke des Nordschwarzwaldes, der hier sehr dicht und von hier oben wenig aufregend aussieht. Deutlich spektakulärer wäre der Blick in die andere Richtung gewesen: nicht in den Nationalpark, sondern hinunter ins badische Rheintal und hinüber bis zu den Vogesen.
Gesundes Selbstbewusstsein
Das Besucherzentrum auf der Passhöhe ist durchaus der Gegenentwurf zur Baukultur-Gemeinde im Tal. Nicht der Auftritt mit großem architektonischem Aplomb wird in Baiersbronn gesucht, sondern eine Baukultur, die von der Bevölkerung nicht nur akzeptiert, sondern mitgetragen und durch zahlreiche kleinere Projekte weitergetrieben wird. Es ist zwar noch nicht die Vorarlberger Architekturlandschaft entstanden – doch die Richtung stimmt. Und vor allem ist es der gelungene Versuch, in einer Gemeinde mittels Baukultur jene Identität zu stärken, die der alteingesessenen Bevölkerung eine Bindung an die Heimat verschafft. Dieses neue ländliche Bauen fördert jenen wertvollen Stolz auf die Attraktivität der Heimat, der sich nicht nur aus den Gewerbesteuereinnahmen des lokalen Industriegebietes speist. Und nicht zuletzt pflegt er ein gesundes und begründbares Selbstbewusstsein gegenüber den Großstädtern und deren gelegentlich herablassendem Blick aufs Land und dessen Bewohnerschaft.
Autor: Dr. Dietmar Danner
ist ausgebildeter Tageszeitungsredakteur, studierte Architektur und wurde mit einer Arbeit über Geschmacksbildungsprozesse in der Architektur promoviert. 25 Jahre arbeitete er als Redakteur bei verschiedenen Design- und Architekturzeitschriften – einen Großteil davon als Chefredakteur / Verlagsleiter von AIT und xia. 2013 verabschiedete er sich in die Selbstständigkeit, gründete mit Architect’s Mind eine eigene Kommunikationsagentur, veranstaltete weltweit Kongresse und Workshops und publizierte erfolgreiche Architektur-Fachzeitschriften. Seit 2022 befindet er sich im Ruhestand, lebt in einem Dorf am Rande des Schwarzwalds und ist gelegentlich noch als freier Autor tätig.