Architektur ist in gewisser Weise immer auch ein Spiegel der Gesellschaft. Wir sind auf Effizienz und Profit getrimmt. Zeit und Raum für Schönes muss hart erkämpft werden. Umso wichtiger ist es, das vorhandene Schöne zu erhalten. Das gilt auch für Bestandsbauten – denn sie haben oft einen Charme, den moderne Investoren-Architektur meistens nicht zu bieten hat. Doch was macht diese Gebäude aus? Ist es die Gestaltung? Oder die Patina? Musste die Schönheit erst wachsen? Einer, der sich mit diesem Thema intensiv auseinandersetzt, ist Peter Haimerl. Bekannt geworden ist er durch die radikale Revitalisierung alter bayrischer Bauernhäuser. Hier beschreibt er, wie er das Thema Bauen im Bestand wahrnimmt.
Architektur hat für mich sehr viel mit Emotion zu tun. Es reicht nicht, wenn sie Funktionen erfüllt. Mancher mag das als esoterisch abtun, aber meiner Meinung nach vermag sie es, den persönlichen Zustand des Besuchers zu verändern – wie eine Art räumliche Droge, die zugänglicher macht, den Geist öffnet und einem eine Haltung verleiht, die sich vom Alltagsbewusstsein unterscheidet. Historisch betrachtet kennen wir diese Intention etwa von den Gestaltern alter Sakralbauten, deren Absicht es war, die Menschen mit den Mitteln der Architektur auf das Kommende einzustimmen. Architektur ist ein ideales Trägermedium für Visionen und Gefühle. Mit ihr lassen sich Ausstrahlung, Wärme und Resonanz, Kälte und Einsamkeit erzeugen.
Abfolge wohlkomponierter Situationen
Wichtig ist mir in diesem Zusammenhang die Dramaturgie. Darum baue ich gerne in alten Städten und Dorfstrukturen. Wenn sie zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert entstanden sind, zeichnen sie sich durch räumliche Dichte und faszinierende, erlebnisdramaturgisch entwickelte Strukturen aus: Von Lübeck bis Bern, vor allem aber in Norditalien setzt sich der Stadtraum aus einer Abfolge wohlkomponierter Situationen zusammen. Diese findet ihren Höhepunkt meist im repräsentativen Stadtplatz. Die Stadt ist in dieser Logik mehr als nur Raum, der begangen wird: Jeder, der sich durch sie bewegt, ist Teil und Produzent einer Geschichte. Ob diese Städte so geplant wurden oder gewachsen sind, ist letztlich unerheblich – relevant als architektonische lnspirationsquelle sind sie bis heute. Gestalten ist für mich etwas Unmittelbares und deshalb vom analytischen Planen zu unterscheiden. Ich entwerfe intuitiv und reflektiere später. Man kann magische Räume, die starke Emotionen hervorrufen, nicht rational entwickeln. Darum bin ich skeptisch gegenüber Architekturen, die intellektuell durchdrungen werden wollen, deren reiche Referenzen und Verweise man lesen soll wie ein Buch. Erregung oder Freude erfährt man unvermittelt.
Aktualisierte Tradition
Die Moderne hat 2000 Jahre Architekturgeschichte verschüttet; sie hat mit der Tradition gebrochen und abstrahiert. Trotz dieser harten Kritik muss man gerade der Nachkriegsmoderne zugutehalten, dass sie das Resultat der Erfahrungen zweier Weltkriege ist. Ihre technoide Nüchternheit und die Ablehnung geschichtlicher Bezüge machten in den 1950er-Jahren Sinn. Sie sind als Abgrenzung gegen jede Spielart historisierender Architektur und besonders den Neoklassizismus zu verstehen. Die Gestalter hatten damals eine neue, demokratische Gesellschaft im Sinn und fürchteten zugleich eine Rückkehr der alten Geister in Form von Faschismus, Nationalismus und Krieg.
Zurückgedrängte Baukultur
Doch leider wurde dabei Bewährtes gleich mitentsorgt. Die Moderne hat – als Massenphänomen – Traditionen und jede Form lokaler Baukultur zurückgedrängt. Ihre abstrakte und beziehungslose Weltsicht hat sich in der Architektur nahezu vollständig durchgesetzt – um den Preis der Identitätslosigkeit. Eine derartige totale Negation von baukulturellem Erbe hat es in der Architekturgeschichte vorher nie gegeben. Für mich sind neue – gerne auch radikale – Formen einerseits und Wertschätzung für Tradition und Baugeschichte andererseits kein Widerspruch. Mehr noch: Letztere zeitgemäß weiterzudenken ermöglicht, sie fortzuführen.
Neue Räume im Alten
Ich habe inzwischen einige Umbauten von alten, oft halb verfallenen Bauernhäusern verwirklicht. Dabei ging es mir stets darum, durch Interventionen, wie zum Beispiel den Einbau eines Betonprismas im Schusterbauernhaus in München-Riem (2015) oder das Andocken von Betonbarren beim Hof Schedlberg nahe Arnbruck, an die durch die Moderne unterbrochenen Traditionslinien anzuknüpfen und sie weiterzustricken. So entstehen neue Räume im Alten, die übrigens nicht nur aus der Geschichte inspiriert sind, sondern auch aus virtuellen Welten: Die Formation der Betonbarren am Hof Schedlberg nimmt zum Beispiel nicht nur Bezug auf den aufgegebenen Granitsteinbruch im umliegenden Wald, sondern ist auch die Momentaufnahme eines Pixelstroms aus Quadern.
Architecte, animos excita!
Man muss das alte Gebäude kennenlernen – von der Geschichte her, von seinem strukturellen Aufbau, aber auch von seinem Charakter. Wichtig ist, dass es für die Sanierung oder Revitalisierung ein starkes, in sich konsistentes Konzept gibt. Nur an ein paar Ecken und Enden restaurieren und reparieren – das ist zu wenig. Das macht keinen Sinn, da kann man nur was kaputtmachen. Bei der Entwicklung des Raumprogramms versuche ich immer, mich dem anzupassen, was da ist. Bei kleinen und niedrigen Räumen arbeite ich im Rahmen der Möglichkeiten. Und was die Haustechnik betrifft: Gerade im Bereich der Heizung und Bauteilaktivierung gibt es einige Systeme, die sich im Altbau sogar besser eignen als im Neubau.
Funken der Begeisterung
Bauen in historischer Substanz ist meist unvorhersehbar, manchmal auch schwer kalkulierbar. Dabei Argumente für die Materie zu finden, die einen Bauträger oder Investor begeistern, bereitet mir dabei wenig Sorgen. Es geht darum, ein Grundstück möglichst effektiv und gewinnbringend zu verwerten. Wenn es gelingt, mit geringem Eingriff einen Mehrwert zu schaffen, dann ist eine Nachnutzung nicht nur baukulturell von Bedeutung, sondern auch wirtschaftlich interessant. In München-Riem haben wir einen alten Bauernhof in ein Wohnhaus mit Mietobjekten umgebaut. Der Erstmieter war so begeistert, dass er sich nach einigen Jahren entschieden hat, ein denkmalgeschütztes Haus zu kaufen und es mit uns zu sanieren. Also: Wenn man die Arbeit gut macht, dann können Funken der Begeisterung auf die Nutzer überspringen.
Große Verantwortung
Ich habe vor etwa 15 Jahren begonnen, mich mit Bauen im Bestand zu beschäftigen. Leider ist die Bereitschaft, mit dem Alten zu arbeiten, in der Branche seitdem eher geschwunden. Vieles ist bereits zerstört. Aber: Es gibt ein paar tolle Ausnahmen – ich habe einige Projekte zur Illustration dieses Beitrags zusammengestellt – und engagierte Unternehmen und Investoren, die es verstanden haben, das Wenige, was noch da ist, zu schützen und zu bewahren. Architekten sind es, die die Materie verstehen. Sie sind es, die die öffentliche Hand und die private Bauwirtschaft mit Know-how und Konzepten versorgen müssen. Das bedeutet große Verantwortung.
Geist und Charakter
Die Auftraggeber sind davon abhängig, dass Architekten gute Projekte machen, dass sie etwas aus dem Nichts heraus schaffen und damit Neues kreieren. Aber wenn man auf den Unis landauf, landab nur lernt, dass Schlichtheit und Bescheidenheit zu den größten Tugenden zählen, dann ist das schwer. Wo bleibt die Lehre über den Geist und Charakter unserer Häuser? Die wichtigsten Herausforderungen für Architektur und Baukultur sind aktuell, dass Architekt und politischer Akteur entscheiden müssen, welche Rolle gebauter Raum als Architektur für sie in Zukunft haben soll. Architektur muss wieder eine relevante gesellschaftliche Rolle übernehmen. Sie muss wieder die Kraft entwickeln, spannende und nachhaltige Stadträume zu erschaffen, die schön und nicht nur funktional sind.
Betretenes Schweigen
Dass es vielen angehenden Architekten nicht leichtfällt, den Charakter eines Gebäudes zu erkennen, habe ich vor kurzem wieder einmal auf einer Vortragsreihe bemerkt, die mich quer durch Deutschland und Österreich führte. Ich habe in den Vorträgen gefragt, ob Interesse an Aufträgen zur Umgestaltung von Ortsmitten, zur Renovierung von Altbauten oder zur Errichtung neuer Gebäude bestünde. Da ich gut vernetzt bin, bot sich hier die Gelegenheit für eine Zusammenarbeit. Doch die Zuhörer schauten daraufhin allesamt betreten zu Boden.
Architektonische Interventionen
Immerhin: In Linz haben sich spontan zwei junge Frauen vom Architektinnenkollektiv JUAN gemeldet. Sie arbeiten jetzt in unserem Auftrag an Projekten in der Gemeinde Brand in der Oberpfalz und gestalten dort kleine Co-Working-Pavillons auf dem Areal eines stillgelegten Freibads, bauen einen ehemaligen Schlachthof in ein Infocenter mit Café und kleinem Lebensmittelladen um, leiten Bürgerversammlungen und sind mit ihrem jugendlichen Charme ein wesentlicher Faktor für die große Akzeptanz dieser architektonischen Interventionen bei der Bevölkerung.
Dieser Text ist die Zusammenführung von zwei Beiträgen Peter Haimerls, erschienen in der archithese 3.2018 „Bayern“ und dem Buch „mittendrin und rundherum“ von Wojciech Czaja und Barbara Feller, jovis, 2022.
Autor: Prof. Peter Haimerl
geboren 1961 in Eben,
studierte an der Fachhochschule München. Nach seinem Diplom 1987 arbeitete er zunächst in verschiedenen Büros in Wien und Graz. 1991 gründete er schließlich sein eigenes Büro in München. Hinzu kamen Lehraufträge an der Fachhochschule München, der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und eine Gastprofessur an der Universität Kassel. Seit dem Wintersemester 2019/20 hält Peter Haimerl eine Professur für Architektur an der Universität für künstlerische und industrielle Gestaltung Linz für die Abteilung Architektur:zoomtown inne. Peter Haimerl ist seit 2018 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und seit 2022 in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München.
www.peterhaimerl.com