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Sieben Linden

Die Bewohner des Ökodorfs „Sieben Linden“ in der Altmark leben konsequent nachhaltig. In zahlreichen Workshops bringen Referenten wie Michael Würfel den Interessierten ihre Lebensweise näher.



Wie lebt es sich mitten im Nirgendwo?
Ich war der Stadt überdrüssig, da ich dort das Gefühl hatte, nicht wirklich etwas bewirken zu können. Über den Umweg Allgäu bin ich nach Beetzendorf in das Wohnprojekt Sieben Linden gekommen. Nur auf dem Land zu wohnen hätte mein Gefühl vermutlich nicht verändert – entscheidend war das Konzept der Gemeinschaft Sieben Linden. Hier habe ich eine Gruppe von Menschen gefunden, mit denen ich eine Vision teile. Zusammen lässt es sich sehr gut mitten im Nirgendwo leben. Kultur ist in und um Beetzendorf sowie in Sieben Linden für meinen Geschmack ausreichend vorhanden. Wir sind ja eine große Gemeinschaft, da können wir uns schon zum großen Teil gegenseitig unterhalten und inspirieren, Film- oder Tanzabende anbieten; es gibt eher zu viele Termine als zu wenige. Es gibt auch diverse Festivals in der (weiteren) Umgebung wie die „Kulturelle Landpartie“ im Wendland, „Wagen und Winnen“ in der Altmark oder die vor Ort wie das Pfingst-Tanz-Festival sowie das große Sommercamp in Sieben Linden. Auch das schulische Angebot ist ausreichend. Miserabel sieht es dagegen bei der gesundheitlichen Versorgung aus. Das Problem der fehlenden Landärzte ist auch in unserer Region groß. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als gesund zu leben.

Noch nicht populär, aber bald? Bauen mit Stroh.
Gemeinschaft wird in Sieben Linden großgeschrieben.

Gibt es Vorurteile oder Missverständnisse gegenüber eurer Lebensweise, und wie geht ihr damit um?
Bedenken gegenüber unserer Lebensweise können wir meistens relativ schnell aus der Welt schaffen, da wir Transparenz sehr großschreiben. Wir sind offen für Besucher und bieten neben Workshops auch eine selbstleitende Führung an, die den Gast informativ über das Gelände führt. Außerdem sind wir recht stark in den Medien vertreten und haben selbst Filme und Bücher über Sieben Linden publiziert. Es kann sein, dass Menschen durch unseren kleinen ökologischen Fußabdruck ihren eigenen Lebensstil infrage gestellt sehen. Offensiv zu missionieren ist aber gar nicht unser Anliegen. Wir können andere Lebensweisen sehr wohl akzeptieren – selbst innerhalb unserer Gruppe sind die Einstellungen zur Nachhaltigkeit unterschiedlich ausgeprägt. Von unserer Lebensweise kann man sich inspirieren lassen oder man lässt es bleiben. Auch wenn es anfangs in der Region Vorurteile gegenüber uns gab: Nach knapp 30 Jahren sind fast alle abgebaut. Viele von uns gehen im Umland ganz normal arbeiten. Ich zum Beispiel bin auch in der Freiwilligen Feuerwehr aktiv. Umgekehrt sind auch Leute aus dem Umland bei uns angestellt. Berührungsängste gibt es da kaum.

Wie definiert ihr den Begriff „Nachhaltigkeit“, und wie lebt ihr ihn?
Ganz wichtig ist der Gemeinschaftsaspekt – dass man lernt, sich mit anderen Menschen und Meinungen auseinanderzusetzen. Wenn man das nicht tut, nutzen einem die schönsten Konzepte zur Nachhaltigkeit nichts; man wird es nicht schaffen, sie umzusetzen. Der Trend geht im Zeitalter von Social Media leider gerade eher in die andere Richtung, Polemik und Polarisierung nehmen zu. Das ist eine Sackgasse; die großen Probleme unserer Zeit lösen wir nur zusammen. Diese Kultur des Diskurses pflegen wir im Ökodorf. In der Praxis leben wir Nachhaltigkeit durch minimierten Konsum; wir teilen viel, zum Beispiel Autos, Waschmaschinen, Sauna, Räumlichkeiten. Wir probieren alles, was Nachhaltigkeit verspricht: Permakultur, Agroforstwirtschaft, Trockentrenntoiletten mit Pflanzenkläranlage und Fäkalienkompostierung. Wir setzen auf Strohballen-Lehmbau und unser Energiekonzept baut auf regenerative Energieträger auf. Wir streben einen bewussten Genuss von tierischen Produkten an, viele reduzieren diesen stark oder leben gleich vegan.

Das klingt jetzt so, als ob Nachhaltigkeit nur im Kleinen machbar wäre.
Ja, das ist interessant: Wie groß darf eine Gemeinschaft sein? Ich finde schon, dass ein Land wie Deutschland als Gemeinschaft bezeichnet werden kann. Krankenkasse und Sozialstaat beruhen zum Beispiel auf einem gemeinschaftlichen Konzept. Auch Förderprogramme oder Investitionen in die Infrastruktur werden letztlich von dieser großen Gemeinschaft getragen. Das schaffen wir in diesem Maßstab hier natürlich nicht. Trotzdem kann in einem Land mit über 80 Millionen Einwohnern das Gemeinschaftsgefühl nicht im selben Maße vorhanden sein, da die Individuen einfach zu verschieden sind und persönliche Beziehungen nicht so ausgeprägt sein können. In Sieben Linden sind wir zum Beispiel in einer Art Rätesystem organisiert; wir delegieren Entscheidungen in kleine Gruppen und schaffen es dennoch, über das Wirken der Räte informiert zu bleiben. Es gibt nicht diese Trennung wie zwischen Bürger und Politik. Das schafft Vertrauen und Zusammenhalt und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. Leider lässt sich das nicht unbedingt auf die große Gemeinschaft eines Landes übertragen.

Stoßt ihr irgendwo auf Grenzen der Nachhaltigkeit?
Wir versuchen Nachhaltigkeit mit gutem Leben auszubalancieren. Die Grenze liegt bei jedem anders. In meinem Film über Sieben Linden „Kein richtig falsches Leben“ sagt einer, er genieße es, im Regen mit dem Rad nach Beetzendorf zu fahren, da er dann die Natur erleben könne und sich ihr verbunden fühle. Bei mir ist da die Komfortzone schon verlassen – vor allem, wenn ich mit meinen Kindern unterwegs bin, nehme ich doch lieber ein Auto aus unserem Car-Sharing-Pool. Bei einem grundsätzlichen Bekenntnis zu einem möglichst nachhaltigen Leben können sich die Bewohner diese Grenzen selbst festlegen und an die individuellen Bedürfnisse anpassen. Dennoch ist es schon gewollt, im Diskurs zu bleiben und gegebenenfalls auch mal auf ein Verhalten hinzuweisen, das einem unökologisch erscheint.

Bis auf das Ständerwerk besteht der Kern der Wände nur aus Stroh.
Das Einbringen der Strohballen ist kein Hexenwerk.

Lässt sich das Konzept Sieben Linden für die Stadt adaptieren?
Das Konzept von Sieben Linden vielleicht nicht, da es auf einer überschaubaren Dorfgemeinschaft aufbaut. Es gibt aber genügend Ansatzpunkte, um Gemeinschaft auch in der Stadt zu fördern. Einige Dinge gehen dort vielleicht sogar viel effektiver: gemeinschaftliche Mobilität oder verdichtetes Wohnen zum Beispiel. Auch ließen sich ökologische Bauweisen natürlich in einer Stadt etablieren. Oder den Gemeinschaftssinn verstärkende bürgernahe Entscheidungsprozesse. „Cohousing“ ist in Städten sicherlich im größeren Maßstab umsetzbar – wenn auch vielleicht mit einer anderen Gewichtung des Gemeinschaftsanspruchs. Das wird ja schon immer öfter so organisiert und gelebt.

Was hält die Bauwirtschaft davon ab, nachhaltig zu bauen?
Am billigsten ist immer das, was viel gemacht wird. Nachhaltige Materialien oder Bauformen müssen sich zunächst etablieren. Unsere Häuser sind zum Beispiel eine Konstruktion aus Holzrahmen und Strohballen. Das ist allerdings immer noch eine individuelle Lösung: Man muss erst einmal einen Landwirt finden, der einem die Strohballen in entsprechender Qualität presst. Dahinter steckt noch keine Industrie im herkömmlichen Sinne. Bei Investorenarchitektur zählt zudem jeder Zentimeter Grundfläche. Je effektiver die Dämmung, desto dünner die Wand, desto mehr Fläche kann verkauft werden. Wenn dann eine Dämmung aus Kunststoff wenige Zentimeter Wandstärke einspart, spiegelt sich das deutlich in der vermarktbaren Fläche wider. Private Bauherren setzen meist auf bewährte Baustoffe, da sie ungewöhnlichere Baustoffe wie Strohballen nicht einschätzen können. Sie greifen dann lieber auf Erfahrungen zurück, die Architekten, Freunde und Verwandte beim Bau gemacht haben – und die haben dann meistens mit herkömmlichen, wenig nachhaltigen Materialien zu tun gehabt wie zum Beispiel Beton, Styropor oder Verbundwerkstoffen. Hinzu kommt, dass viele Hersteller ihre Produkte gar nicht auf Nachhaltigkeit umstellen können, da müsste man eher die Bauweise selbst verändern.

Wie kann die Bauwende gelingen?
Grundsätzlich braucht es ein Bewusstsein, dass die Zeit der Einfamilienhäuser vorbei ist: Sie sind zu unflexibel, verbrauchen im Vergleich zu viel Fläche und sind auch energetisch am uneffektivsten. Außerdem gibt es veraltete, teilweise hanebüchene Auflagen wie zum Beispiel die Menge vorgeschriebener Parkplätze – sie gelten selbst bei Bauprojekten, deren Bewohner gar keinen Individualverkehr mehr nutzen wollen. Hier sollte die Sinnhaftigkeit einmal auf den Prüfstand. Es gibt aber auch einige gute Ansätze: Die neue KfW-Verordnung, in der nicht nur die reine Dämmwirkung, sondern auch die Ökobilanz der Materialien berücksichtigt wird, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Auch die unterschiedlichen Förderprogramme rund um nachhaltiges Bauen können sehr wirksam sein. Gefördert werden sollte auch die Erforschung ungewöhnlicher oder in Vergessenheit geratener Baustoffe. Oder das Handwerk als Ausbildungsberuf. Ich selbst habe eine Zimmererlehre gemacht und für mich erkannt, was für eine fantastische Kulturtechnik das Bauen ist. Diese Begeisterung für einen handwerklichen Beruf findet man heute nicht mehr allzu oft bei den jungen Menschen. Sie wollen lieber Influencer werden. Dabei braucht es so dringend innovative Planer und begeisterte, breit ausgebildete Handwerker, die nachhaltige Bauweisen propagieren.

Wie bekommt man Nachhaltigkeit in die „Mitte der Bevölkerung“?
Das Schöne an Nachhaltigkeit ist ja, dass sie an sich total logisch und verständlich ist, wenn man sie auf sich beziehen kann. Nachhaltigkeit hat nichts mit „linksgrün-versifft“ zu tun. Warum der Begriff für bestimmte Menschen so ein rotes Tuch darstellt, ist mir ein Rätsel. Es ist doch im Interesse eines jeden Menschen, möglichst gut zu leben und gleichzeitig zu überleben. Selbst auf Profit orientierte Unternehmen merken ja langsam, dass man so nicht mehr lange weitermachen kann. Mit unseren Seminaren versuchen wir auch Themen der Nachhaltigkeit verständlich zu erläutern – zum Beispiel, wie unsere Strohballenhäuser entstehen und funktionieren. Bei diesen Themen gibt es in Deutschland sicherlich noch Aufholbedarf. In Frankreich zum Beispiel stehen schon deutlich mehr Strohballenhäuser als hierzulande. Nachhaltigkeit im Alltag kann man zum Beispiel mit guter Bildung an inspirierenden Orten voranbringen. Viele Menschen haben die Vorstellung, dass ihnen für ein nachhaltiges Leben etwas weggenommen wird und sie unkomfortabler leben müssten. Diese Angst steht einem nachhaltigen Leben oft im Weg. Ausprobieren hilft: Wer bei uns während eines Bildungsaufenthaltes im Gästehaus „Strohtel“ wohnt, das vegetarisch-vegane Bio-Essen genießt, die Trockentrenntoiletten kennenlernt und den Luxus der Natur auf dem Lande erfährt, ist meist positiv überrascht.

Innen wird mit Lehm verputzt.
Und so sieht eines der Häuser - hier die "Villa Strohballen" - fertig aus.

Habt ihr nicht so offensichtliche Tipps, wie jeder von uns nachhaltiger leben kann?
Die Menschen, die am nachhaltigsten leben, sind meistens nicht diejenigen, die im Prenzlauer Berg im Biomarkt einkaufen, sondern die, die sich nicht viel leisten können und dann eben nicht zweimal im Jahr in den Urlaub fliegen. Ein kleiner ökologischer Fußabdruck hat also viel mit „dem einfachen, aber guten Leben“ zu tun. Hierfür zumindest das Bewusstsein zu entwickeln ist sicherlich ein Anfang. Regionale Produkte kaufen und selber kochen macht ebenfalls viel aus. Auch das persönliche Netzwerk hilft viel, wenn man sich dadurch gegenseitig Dinge leihen kann und so den Konsum reduziert. Wenn du – auf die heutige Zeit übertragen – so lebst, wie deine (Ur-)Oma, machst du nicht viel verkehrt. Du musst nicht komplett auf Fleisch verzichten, wenn es nur sonntags auf den Tisch kommt. Du musst nicht auf deinen Trip nach Asien verzichten, wenn du ihn eben nur einmal im Leben und dafür länger machst. Du musst nicht auf dein Auto verzichten, wenn du es mit anderen teilst. Such die für dich entstehenden Vorteile bei Themen der Nachhaltigkeit: Klar bist du mit deinem Auto flexibler. Aber acht Stunden konzentriert hinter dem Steuer zu sitzen ist nicht dasselbe, wie gemütlich in der Bahn zu sitzen und entspannt ein Buch zu lesen. Rechne im Vorfeld eventuelle Verspätungen einfach mit ein; Stau hast du auch auf der Autobahn. So hast du eine wunderbare Alternative zum Individualverkehr. Aus gewohnten Mustern ausbrechen und sich auf Ungewohntes einlassen, wach sein – das ist wohl der beste Tipp, den ich geben kann.


Michael Würfel

Michael Würfel
geboren 1972 in Füssen (Allgäu)
hat eine abgeschlossene Zimmererlehre und ist Filmemacher. Nach Ausbil­dung, Studium und Arbeit im Allgäu, in der Eifel, in Berlin und Hannover ist er 2007 ins Ökodorf Sieben Linden gezogen. Dort arbeitete er zunächst im Medienbereich, später dann als Herausgeber des eurotopia-Verzeichnisses und als Geschäftsführer des eurotopia-Buchversands. Er ist Mitarbeiter im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit und Geschäftsführung. Als Autor publizierte er die Dokumentationen „Dorf ohne Kirche“ (2012) und „Öko Dorf Welt“ (2014). Sein letzter Dokumentarfilm über Sieben Linden heißt „Kein richtig falsches Leben“ und ist im Jahr 2021 erschienen. 2023 erschien sein Roman „Yukon“. Zudem betreute Michael Würfel als Projektleiter das „Strohtel“ und als Bau­leiter das „Schloss Mü“. Michael Würfel wirkt außerdem in Seminaren als Referent mit und vermittelt Gästen bauliche und soziale Aspekte des Ökodorfs.
www.siebenlinden.org

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