Mit dem Klima verändern sich auch die Berge. Erdrutsche und Überschwemmungen machen nicht nur eine neue Siedlungsplanung nötig. Auch konstruktiv werden sich Bauten in den Bergen verändern. Die Schweizer Architekten Dieter Geissbühler und Felix Wettstein sowie die Tiroler Geographen Margreth Keiler und Sven Fuchs umreißen mögliche planerische Reaktionen auf den Klimawandel.
Dieter Geissbühler & Felix Wettstein
Transformation oder Neubeginn?
Für das Bauen waren die Alpen schon immer ein Versuchslabor: Die klimatischen Bedingungen sind hier äußerst harsch, der Untergrund in großen Teilen instabil und das Gefährdungspotenzial durch Wasser, Schnee, Eis und Wind immens. Die Einheimischen konnten lange Zeit gut damit umgehen. Doch durch den Tourismus sind die Berge mittlerweile überlaufen, durch den Klimawandel verändern sich die Herausforderungen rasant. Das hat auch Einfluss auf den Bausektor, für den gleichzeitig der Anspruch gilt, dass baukulturelle Vergangenheit weiterhin ablesbar ist. In meinem Text ordnen wir die Folgen der Veränderungen ein und erläutern sie anhand einiger praktischer sowie theoretischer Arbeiten. Vier Thesen schließen den Beitrag und sollen als Denkanstoß verstanden werden.
Höhenlagen
Das Geschehen lässt sich anhand dreier Höhenlagen einordnen: In den höchsten Lagen gehen die Gletscher zurück und der Permafrost taut auf. In den mittleren Lagen, in denen der Mensch bereits Siedlungen angelegt hat, treten vermehrt Schäden durch Lawinen, Murgänge und Bergstürze auf. Und in den niederen Lagen, am Fuß der Berge, sorgen enorme Wassermassen für Probleme. Diese Phänomene greifen ineinander, die Wechselwirkung ist dynamisch.
Übergeordnete Planungsstrategie
Günther Vogt und Thomas Kissling von der ETH Zürich fordern in ihren Forschungsprojekten eine übergeordnete Planungsstrategie für den Schweizer Alpenraum. Dazu schlagen sie eine systematische Einordnung in zwölf Landschaftstypen vor, die durch ihre unterschiedliche Nutzung definiert werden. Auf dieser Basis sollen Verhaltensstrategien abgeleitet werden, wie jeweils auf die neuen Herausforderungen eingegangen werden kann. In der baukulturellen Entwicklung – sowohl bei landschaftlichen Eingriffen, Infrastruktur- und Schutzbauten als auch bei Gebäuden jeglicher Art – wurden diverse Lösungsansätze bereits ausprobiert und bei Erfolg kontinuierlich weiterentwickelt, so dass die Rückbesinnung auf die Tradition den Kern der heutigen architektonischen Antworten bildet: An erster Stelle steht das Ausweichen. Das heißt, es wird nur dort gebaut, wo keine oder zumindest wenig Gefahren bestehen. Dort, wo sich Gefahren nicht vermeiden lassen – zum Beispiel in bereits bestehenden Siedlungsgebieten – müssen bauliche Lösungen für Sicherheit sorgen.
Städtische Perspektive
Die Alpen haben immer wieder zur Idealisierung verleitet. So fand Adolf Loos beim Bergler die tragfähigen konstruktiven Lösungen, die er 1913 in „Regeln für den, der in den Bergen baut“ niederschrieb. 1917 verherrlichte Bruno Taut in seinem Text „Alpine Architektur“ die Berge als heroische Embleme. Der Bergler als Hüter einer heilen Welt. Interessanterweise stammen beide Positionen von Städtern, was wohl die Verklärung erklärt. Beide Texte werden der Realität kaum gerecht. Viel später, im Jahr 2005, schreibt Hubertus Adam in der Archithese: „Denn abgesehen von der hervorragenden Bertolhütte, die Jakob Eschenmoser 1975/76 auf dem Col de Bertol im Wallis errichtete, zeichnen sich die meisten Hütten durch architektonische Belanglosigkeit aus.“ Welch Trugschluss. Viele der Berghütten sind qualitätsvolle Architekturen. Ihnen wohnt eine Resilienz inne, die künftig das Bauen in den Bergen wieder bestimmen muss. In diesen Projekten sind die auch weiterhin gültigen Grundprinzipien vollumfänglich enthalten. Es wird nicht darum gehen, die Architektur neu zu erfinden, sondern gut konstruierte Bauwerke organisch in ihren gewachsenen Kontext einzubinden. Es ist nicht Neues gefragt, es geht um das „Weiterbauen“, das auch den Verzicht beinhalten muss.
Transformationsstrategien
Im Masterstudiengang „Joint Master of Architecture“, der gemeinsam von der Berner Fachhochschule und der Fachhochschule Westschweiz organisiert wird, haben sich Studierende im Sommersemester 2023 unter dem Titel „Zukunftsbilder Alpen – Perspektiven SAC-Hütten 2050“ systematisch mit der Veränderung des Bauens in den Bergen auseinandergesetzt. Unter Leitung von Hanspeter Bürgi und Michael Jäggi wurde auf der bereits erwähnten Arbeit von Günther Vogt und Thomas Kissling von der ETH Zürich aufgebaut. Der Hintergrund des Projekts ist denkbar praxisnah, denn Hanspeter Bürgi ist auch Präsident der Hüttenkommission des SAC (Schweizer Alpen-Club), die unter anderem für die Transformationsstrategien der Schweizer Hütten zuständig ist.
Zukunftsszenario
Eine der Arbeiten trägt den Titel „Wasserlandschaft bewegen“ und wurde von Dennis Hari erarbeitet. Er beschreibt sie so: „Der heutige Standort der Konkordiahütte wird durch den Gletscherschwund immer dramatischer. Mit einer modularen Unterkunft, die sich über einen Zeithorizont von 2023 über 2050 bis 2100 ‚bewegt‘, soll zukünftig eine Hütte jeweils in der Nähe des sich zurückziehenden Gletschers respektive von neu entstehenden Gletscherseen platziert werden. Verorten und ‚Weiterziehen und sanfte Spuren hinterlassen‘ werden zu zentralen architektonischen Themen. Mit der Wahl des vorfabrizierten modularen Systems – dichte (hoch installierte) Raummodule und offene, zweidimensionale Elemente – sind interessante räumliche Kombinationen und Situierungen möglich. Das un- oder teilgewartete Großbiwak zeigt suffiziente Raumdispositionen und interessante konstruktive Ansätze sowie das Potenzial situationsgerechter Setzungen.“
Infrastruktur ist Landschaft
Die Klimakrise erfordert den Umstieg auf erneuerbare Energien. Gleichzeitig wird der Energiebedarf – trotz allgemein gesteigerter Effizienz – weiter steigen. Der Alpenraum eignet sich hervorragend für großflächige Photovoltaikanlagen und Windparks. Die potenziellen Standorte liegen über der Nebelgrenze, wo der reflektierende Schnee und die stärkeren Winde zusätzliche Energie liefern, fernab von individuellen Interessen in dicht besiedelten Gebieten. Die unterschiedlichen Perspektiven der Energiewirtschaft und des Landschaftsschutzes bergen jedoch erhebliches Konfliktpotenzial. Umso erstaunlicher ist es, dass Architekten und Landschaftsarchitekten sich bislang kaum in diese Diskussion eingebracht haben – obwohl die Schweiz eine lange Tradition in der Integration von Infrastrukturbauten in die Landschaft hat. Infrastruktur ist ein wesentlicher Bestandteil unserer kulturellen Identität, unseres Selbstverständnisses und des Bildes, das die Schweiz im In- und Ausland verkörpert. Masterstudierende der Hochschule Luzern haben sich intensiv mit diesen Fragestellungen auseinandergesetzt. Ein zentraler Aspekt ist die Wahl von Standorten in bereits infrastrukturell geprägten Landschaften. Zudem kann die Kombination von Energieanlagen mit der Nutzung in der Touristik, Forschung und Landwirtschaft die Akzeptanz in der Bevölkerung erhöhen und Synergien fördern. Eine die Staumauer Grande Dixence überlagernde Photovoltaikanlage, die mit dem Sonnenstand und dem Wasserspiegel des Stausees interagiert, steht beispielhaft für die innovativen Ansätze der Semesterarbeiten.
Wassermassen
Im Rahmen eines Masterkurses der Hochschule Luzern und in Zusammenarbeit mit Studierenden des Kyoto Institute of Technology wurden alternative Konzepte und deren architektonische Ausprägungen zum Umgang mit immensen Wassermengen bei einer Extremsituation untersucht. Als Beispiel wurde das Hochwasser vom August 2005 in Buochs herangezogen. Als Schutzmaßnahme wurde ursprünglich auf eine großflächige Umleitung des Wassers in kontrollierte Korridore zur Schadensminderung gesetzt. Die Studenten schlugen als Alternative eine dezentrale, feinmaschige Aufgliederung der entstehenden Oberflächenwasserabläufe vor. Durch kleine Eingriffe wurden Freiräume geschaffen, die im Normalfall – also bei minimalen beziehungsweise fehlenden Wasserdurchflüssen – den Bewohnern einen Mehrwert als Aufenthaltsbereich im Freien bieten und bei Starkregen das anfallende Wasser großflächig verteilen.
Bergsturz von Bondo
Am 24. August 2017 kam es am Piz Cengalo oberhalb von Bondo im Bergell (Kanton Graubünden) zu einem gewaltigen Felssturz. Rund 3 Millionen Kubikmeter Gestein schoben sich als Murgang vom auf 3000 Metern gelegenen Abbruchgebiet bis hinunter nach Bondo, das auf knapp 830 Metern liegt. Als Ursache für den Murgang wird eine Kombination aus auftauendem Permafrost und dem Wasserdruck im Gestein vermutet. In Bondo waren dank der bestehenden Schutzmaßnahmen – schon im Dezember 2011 kam es zu Felsabbrüchen – nur vier Gebäude betroffen. In der Folge wurde 2019 für die Wiederinstandstellung und den Ausbau der Schutzmaßnahmen ein eingeladener Projektwettbewerb durchgeführt. Zugelassen waren Teams, die sich aus den Fachbereichen Wasserbau, Bauingenieurwesen, Landschaftsarchitektur und Städtebau zusammensetzten. Gewonnen hat das Team Conzett Bronzini Partner, Caprez Ingenieure, Eichenberger Revital, mavo Landschaften, Müller Illien Landschaftsarchitekten, Conradin Clavuot Architekt.
Integrierte Schutzelemente
In ihrem Erläuterungstext erklärt das Team seinen Entwurf: „Die Integration der Hochwasserschutzelemente in das Dorf und die Landschaft geschieht mit den Mitteln, die sich vor Ort finden: der Vegetation, den Dorfstrukturen, den bestehenden Rollierungen. [...] Die beiden bestehenden Dämme bleiben erhalten, werden aber in das Siedlungsgefüge integriert. Der rechte Damm tritt in seiner Steilheit wie eine Bergflanke in Erscheinung, in der Schwemmebene an seinem Fuß wachsen dank Initialpflanzungen bald wieder Strauchweiden. [...] Am linken Damm als Schnittstelle zum Dorfkern Bondos ist die Einbindung besonders wichtig. Flussseitig entsteht ein naturnahes Bild. Die Steinbänder wechseln sich mit langen Vegetationsbändern ab. [...] Dorfseitig nimmt die Gestaltung ein typisches Thema der Bergeller Kulturlandschaft auf: die Nutzung steiler Ha?nge durch die Terrassierung. [...]“
Zerfall und Gestaltung
Die Alpweiden Sceru und Giumello liegen auf über 2000 Metern im Val Malvaglia, Tessin. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Veränderungen haben dazu geführt, dass die bescheidenen Steinbauten, die Mensch und Tier über Jahrhunderte Schutz boten, nicht mehr genutzt und verlassen wurden. Der Verfall dieser Architektur bedeutet den Verlust von Geschichte und Identität: Ein Gebäude wird zur Ruine, und letztlich verschwinden auch die letzten Spuren menschlicher Zivilisation. Dem Zerfall hat der Architekt Martino Pedrozzi mit seinem Projekt „Recompositions“ entgegengewirkt. Durch die Neuanordnung der Steine der verfallenen Bauten innerhalb seiner Grundmauern schafft er eine vielschichtige Aussage. Es entsteht eine neue Ordnung: Aus einem Raum wird ein Volumen, aus einem Haus eine Skulptur – vielleicht sogar ein Grab. Die „Recompositions“ verleihen der Architektur eine neue Bedeutung. Sie erinnern an vergangene Zeiten und an eine nicht mehr existierende Gesellschaft, während sie gleichzeitig auf die fortschreitenden Veränderungen im Alpenraum hinweisen und einen Zustand der Stille und Poesie schaffen.
Vier Thesen zur Zukunft des Bauens in den Bergen
1. Architektur ist nicht lokal begrenzt: Dem Alpenraum gehört besondere Aufmerksamkeit, eine übergeordnete Planung ist unabdingbar.
2. Architektur ist nicht auf Gebäude begrenzt: Der Infrastruktur gehört besondere Aufmerksamkeit.
3. Architektur ist resilient: Im Alpenraum sind innovative Lösungen in Bezug auf Landschaft und Klima gefordert.
4. Architektur ist ein kontinuierlicher Prozess: Die Tradition ist der Lehrmeister im Sinne einer hohen Baukultur.
Dieter Geissbühler
studierte an der ETH Zürich und der Cranbrook Academy of Art. Er war Partner in verschiedenen Bürogemeinschaften und heute tätig im Büro Geissbühler Venschott Architekten. Von 1986 bis 1997 war er Lehrbeauftragter an der ETH Zürich. Seit 2000 ist er als mittlerweile emeritierter Professor, aber noch aktiver Lehrbeauftragter an der Hochschule Luzern im Masterstudiengang Architektur mit dem Schwerpunkt Architektur & Material tätig. Zudem verantwortet er in Co-Leitung den Bereich Weiterbildung im CAS Baukultur.
Felix Wettstein
studierte an der ETH Zürich und der Harvard Graduate School of Design Architektur. Nach zwei Jahren bei Rafael Moneo und Manuel Solà-Morales machte er sich selbstständig und gründete das Büro Giraudi & Wettstein. 2010 folgte die Gründung von studio we architekten zusammen mit Ludovica Molo. Über die Jahre hatte Felix Wettstein immer wieder Assistenz-Jobs und Lehraufträge als Assistent an der ETH Zürich. Seit 2015 arbeitet er als Dozent an der Hochschule Luzern mit dem Fokus Struktur im Masterstudiengang Architektur. Zudem war Felix Wettstein von 2013 bis 2023 Präsident der „Commissione del Paesaggio“ im Kanton Tessin.
www.hslu.ch/de-ch/technik-architektur
Prof. Dr. Margreth Keiler & Sven Fuchs
Bauen im Kontext von Naturgefahren und Klimawandel in den Bergen
Im Alpenraum waren in den letzten Jahren erhebliche Schäden durch Naturgefahren zu verzeichnen, obwohl seit mehr als 100 Jahren Schutz vor ihnen institutionalisiert organisiert ist. Naturgefahren wie Lawinen, Rutschungen oder Hochwasser fordern die Gesellschaft in Gebirgsregionen seit Beginn der Nutzung dieser Räume. Neue Herausforderungen im Umgang mit und in der Prävention vor Naturgefahren ergeben sich aufgrund des Klimawandels durch Veränderung der Intensität von Niederschlägen und Anstieg der Temperatur. Letzteres führt in hohen Lagen zum Beispiel zum Abschmelzen von Permafrost und damit zu einer Destabilisierung der Hänge. Die intensive Nutzung der Alpentäler, die Ausdehnung von Siedlungen und Infrastruktur in gefährdete Gebiete und hohe Mobilitätsansprüche tragen zusätzlich zum Anstieg des Schadenpotenzials bei.
Risikomanagementstrategien
Unterschiedliche Anpassungsstrategien existieren: Wir alle kennen technische Schutzbauten wie jene im Bereich des Hochwasserschutzes (Dämme) oder im Bereich des Lawinenschutzes (Anbruchverbauungen) oder auch konzeptionelle Maßnahmen wie Gefahrenzonenpläne, die letztlich dazu dienen sollen, gefährdete Gebiete freizuhalten vor (neuer) Bebauung. Zunehmend rückt als Anpassungsmaßnahme der Aspekt des lokalen Objektschutzes in den Vordergrund. Hierunter verstehen wir die architektonische oder bauliche Ausgestaltung von Gebäuden, um diese weniger anfällig für Schäden aus Naturgefahren zu machen. Der lokale bauliche Schutz umfasst Maßnahmen, die direkt an gefährdeten Objekten oder in deren Nähe durchgeführt werden, und hat sich im Hinblick auf Risikomanagementstrategien als besonders kosteneffizient erwiesen. Dennoch ist es in der Architektur und in der Planung wenig bekannt, welche Möglichkeiten sich hier für private Bauwerber und gewerbliche Projektentwickler erschließen.
Raumaufteilung
Um die Anfälligkeit eines Gebäudes zu verringern, wird im Allgemeinen eine Kombination aus angepasstem Bauentwurf und angemessener Innenraumnutzung angestrebt. Eine solche angemessene Innenraumnutzung wird als Raumaufteilung definiert, die entsprechend möglicher Gefahrenauswirkungen angepasst werden kann. Diese Anpassung basiert auf der Idee, Räume zum Beispiel nach der Belegungszeit der Bewohner anzuordnen, um mögliche Bedrohungen zu reduzieren. So können jene Räume, in denen sich Personen länger aufhalten (wie Schlafzimmer) auf der gefahrenabgewandten Seite des Gebäudes angeordnet werden und Räume, in denen sich Personen kürzer aufhalten (wie Badezimmer) auf der gefahrenzugewandten Seite.
Angepasste Bauweise
Eine angepasste Bauweise basiert dagegen auf baulichen Verstärkungen der Gebäudestruktur und zielt daher auf eine Stärkung der Gebäudehülle durch lokalen baulichen Schutz ab. Der lokale bauliche Schutz kann entweder als umschließende Struktur oder als direkt mit dem Gebäude verbundene Struktur durchgeführt werden. Solche umschließenden Strukturen sind als Maßnahmen definiert, die gefährdete Elemente umgeben, aber nicht mit ihnen verbunden sind. Sie sind gut geeignet, die direkten Gefahreneinwirkungen auf die Gebäudehülle zu verhindern, während direkt mit der Gebäudehülle verbundene Strukturen grundsätzlich eine erhöhte Widerstandsfähigkeit der Konstruktion zur Folge haben.
Widerstandsfähigkeit
Lokale bauliche Schutzmaßnahmen können nach ihrer Eignung zum Schutz vor Gefahrenprozessen, nach ihrer Lage in Bezug auf das gefährdete Element sowie nach ihrer Bauart und dem verwendeten Material unterschieden und klassifiziert werden. Eine weitere Unterscheidung erfolgt nach der permanenten oder temporären Umsetzung, wie sie zum Beispiel permanente Betonwände oder mobiler Hochwasserschutz bieten.
In Anbetracht der möglichen Auswirkungen von Naturgefahren weisen verschiedene Baumaterialien unterschiedliche Widerstandsfähigkeit auf. Folglich führt eine prozessspezifische Risikobewertung, die zum frühestmöglichen Zeitpunkt der Entwurfsplanung durchgeführt wird und sich auf die Aufprallkräfte, die Anfälligkeit sowie die Schadensmuster konzentriert, zu einem angemessenen Schutzkonzept. Daher sind Informationen sowohl über die Auswirkungen von Gefahren als auch über die entsprechenden Belastungen der Gebäudehülle erforderlich.
Bauliche Verstärkung
Die bauliche Verstärkung eines Gebäudes im Hinblick auf einen erhöhten Schutz vor den Auswirkungen von Naturgefahrenprozessen kann durch verschiedene konstruktive Ansätze erreicht werden, wie zum Beispiel durch eine Verstärkung des Fundaments, der strukturellen Ebenen (erstes und zweites Stockwerk), der Dachkonstruktion sowie durch zusätzliche Gestaltungselemente wie Gebäudeöffnungen oder mobile Schutzelemente.
Im Fall einer Hochwassergefährdung sollte das Untergeschoss durch eine Bauweise aus wasserdichtem Beton gesichert werden, auch Durchdringungen wie Rohre und Infrastruktureinrichtungen sind abzudichten. Eingebaute Lichtschächte sollten über dem erwarteten möglichen Hochwasserpegel liegen, um das Eindringen von Flüssigkeiten und Feststoffen in das Innere zu verhindern. Darüber hinaus verhindert eine im Abwassersystem installierte Rückstauklappe wirksam die Auswirkungen einer möglichen Kapazitätsüberlastung der Entwässerung.
Statischer Druck
Das Erdgeschoss ist besonders anfällig für jegliche Art von äußeren Einwirkungen durch Gefahrenprozesse, das heißt durch den zusätzlichen dynamischen und statischen Druck auf die Außenwände, der durch das „Medium“ verursacht wird, sowie durch Druckspitzen, die von transportierten Feststoffpartikeln (Holzreste, Felsbrocken) ausgehen. Daher sollten „prozessseitige“ Außenwände entweder bei bestehenden Bauwerken nachgerüstet werden – zum Beispiel durch eine zusätzliche Betonschicht – oder bei Neubauten aus Stahlbeton statt aus Ziegelmauerwerk bestehen.
Reduzierte Gebäudeöffnungen
Bei der Dachkonstruktion sollten Traufen vermieden werden, um die Widerstandsfähigkeit der Struktur gegen Zugkräfte zu erhöhen. Darüber hinaus wird eine allgemeine Verstärkung empfohlen, um schweren Schneelasten standzuhalten, was bereits in den örtlichen Bauvorschriften regelmäßig vorgeschrieben ist.
Als übergreifender Rahmen sollten Gebäudeöffnungen an gefahrenzugewandten Seiten eines Bauwerkes vermieden werden. Wenn dies aufgrund architektonischer oder ästhetischer Einschränkungen nicht möglich ist, muss die Anzahl und Größe der Gebäudeöffnungen reduziert werden, und alle Öffnungen auf Bodenhöhe sollten beseitigt werden. Falls erforderlich, stehen speziell verstärkte mehrschichtige Fenstergläser, Fensterrahmen und Beschläge zum Schutz vor dem erheblichen Aufpralldruck von Gefahrenprozessen zur Verfügung. Eine Kombination mit Fensterläden, die an der Außenseite der Wand und nicht im Fensterrahmen montiert sind, ergänzt diese Vorschläge.
Interdisziplinärer Austausch
Abgesehen von einer baulichen Verstärkung kann der Schutz eines Gebäudes, das Naturgefahren ausgesetzt ist, durch konstruktive Maßnahmen in der Nähe dieser gefährdeten Elemente (Spaltkeil, Damm) ergänzt werden. Solche Maßnahmen eignen sich auch für exponierte Bauwerke, bei denen eine bauliche Verstärkung entweder nicht – zum Beispiel aufgrund finanzieller Beschränkungen oder Einschränkungen durch den Denkmalschutz – oder nur mit außergewöhnlichem Aufwand möglich ist.
Eins ist klar: Bautätigkeit im Gebirge benötigt einen intensiveren und interdisziplinären Austausch zwischen den Fachbereichen des Naturgefahrenmanagements, der Raumplanung, der Bauordnung und der Architektur, um sich den zukünftigen Herausforderungen des Klimawandels anzupassen.
Dr. Sven Fuchs
studierte in München und Innsbruck Geographie und Geologie. Er ist am Institut für Alpine Naturgefahren der Universität für Bodenkultur in Wien beschäftigt und leitet dort eine Forschungsgruppe rund um das Thema Naturgefahren und Risiko. Er beschäftigt sich intensiv mit Schadensfunktionen, die es erlauben, Gebäudeschäden in Bezug zum Gebäudewert darzustellen, sowie mit zeitlichen und räumlichen Aspekten der Risikoentwicklung.
www.boku.ac.at/baunat/ian
Prof. Dr. Margreth Keiler
studierte Geographie und Erdwissenschaften in Innsbruck und Aberdeen. Derzeit ist sie Professorin am Institut für Geographie der Universität Innsbruck und leitet das Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. In der Forschung beschäftigt sie sich mit Veränderungen von Naturgefahren und Risiken in Gebirgsregionen in Zusammenhang mit dem globalen Wandel. Ihre Motivation ist ein besseres Verständnis der dynamischen Veränderung von Naturgefahren, der Entwicklung von Risiko, Schadensanfälligkeit von Gebäuden und Infrastruktur sowie der Resilienz in Gebirgsräumen.
www.uibk.ac.at/de/geographie