2006 und 1910, Moderne trifft Neoromanik: Im Rhedaer
Wohngebiet stehen sich seit einigen Monaten die Expo-
nenten zweier grundverschiedener Architekturepochen und
-haltungen gegenüber. Wenig eint das Haus Börger und sein
Pendant auf der anderen Straßenseite, die von Josef Becker
errichtete St.-Clemens-Kirche, auf den ersten Blick. Doch
wer näher hinsieht, erkennt die Bezüge zum Gegenüber
durchaus, die Oliver Spiekermann mit dem Neubau auf-
nimmt: Die graue Eternit-Verkleidung des Obergeschosses
spiegelt in Farbe und Struktur das schiefergedeckte Kir-
chendach wider. Das zu drei Seiten – zum Garten, zur
Straße und zum Himmel – offene Treppenhaus ist zudem
achsial auf einen der Kirchtürme ausgerichtet, der so für die
Hausbewohner immer präsent ist.
Ein „extravagantes, individuelles und besonderes“ Haus,
berichtet Oliver Spiekermann, wollte das Bauherren-
Ehepaar für sich und seinen Sohn errichten. Der Neubau
sollte erkennen lassen, aus welcher Zeit er stammt, und
zugleich eine Alternative zu den in Rheda-Wiedenbrück oft
gesehenen Klinkerfassaden bieten. Gleichzeitig wünschten
die Bauherren keinen nur auf sich bezogenen Kubus, son-
dern ein vielgliedriges Gebäude mit einem ausgewogenen
Verhältnis aus Privatheit und Offenheit. Letzere bedeutet
auch: Das Grundstück schottet sich weder durch Mauern
noch durch hohe Hecken von seinen Nachbarn ab; lediglich
das Wohnhaus selbst bietet ein gewisses Maß an Sicht-
schutz für den Garten. „Mit den Entwurfsplänen war das
Bauamt bei der ersten Vorbesprechung nicht einverstanden,
ja fast geschockt“, erinnert sich Oliver Spiekermann heute.
„Die Aussage war: Zu der alten Kirche würde besser ein
Fachwerkhaus passen.“ Letztlich überzeugte der Architekt
jedoch mit dem Argument, dass ein historisierender Bau im
Jahr 2006 nicht mehr angemessen sei und dass auch ein
moderner Bau die Verbindung zur historischen Kirche schaf-
fen könne. Und eine Führung durchs Haus nach dessen
Fertigstellung ließ schließlich auch die letzten Bedenken
einhelliger Zustimmung weichen.
Haus Börger ist eine Komposition aus zwei Baukörpern und
einigen Anbauten, die auch im Material deutlich voneinan-
der unterschieden werden: Ein im Grundriss L-förmiges Erd-
geschoss öffnet sich mit seinen verglasten Innenschenkeln
zum Garten hin. Gegenüber nimmt eine angedockte, mit
Eternit verkleidete „Küchenbox“ Kontakt zum Nachbarn auf.
Zur Straße hin zeigt sich das Haus ebenfalls recht offen;
allerdings sind die Glasflächen hier überwiegend sandge-
strahlt. Das aufgesetzte, gleichfalls mit Faserzement verklei-
dete Obergeschoss verrät sorgfältige Detailarbeit: Keine der
256 Fassadenplatten stimmt im Format mit einer anderen
überein. Dennoch werden die Horizontalfugen minutiös um
die Gebäudeecken hinweg fortgeführt. Oliver Spiekermann
vergleicht diesen Bauteil zutreffend mit einem Fernrohr:
Durch die raumbreiten, geschosshohen Glaswände an bei-
den Enden haben die Bewohner den besten Ausblick auf die
Kirche und über das umliegende Wohngebiet. Offenheit und
abwechslungsreiche Durchblicke dominieren auch die
Innenräume: Nur dort, wo sie unvermeidlich waren (also in
den Schlafräumen, dem Büro, dem Gäste-WC und im Bad),
wurden Innenwände eingezogen. Im Erdgeschoss bietet ein
einziger durchgehender Raum Platz zum Wohnen, Essen und
Kochen; die einzelnen Bereiche werden lediglich durch
unterschiedliche Fußbodenniveaus und -materialien sowie
durch verschiedene Deckenhöhen markiert.
Haus Börger in Rheda-Wiedenbrück
Fortschrittlich gesinnte Bauherren, ein junger, experimentierfreudiger Architekt und
ein Bauamt, das sich nach anfänglichen Bedenken vom Wert moderner Architektur
überzeugen lässt: Die Geschichte des Wohnhauses Börger in Rheda-Wiedenbrück
beinhaltet all die Zutaten, die kompromisslos modernes Bauen im historischen
Kontext heute auszeichnen – inklusive abschließender Zufriedenheit bei allen
Beteiligten.
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