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32 SPRACHKULTUR: GRIMMWELT IN KASSEL

Die Brüder Grimm erschufen Schnee­

wittchen und das Deutsche Wörterbuch.

Mit der Kasseler „Grimmwelt“ gelang

kadawittfeldarchitektur das Kunststück,

Populärkultur und sprödeste Sprach­

wissenschaft zeitgleich einem breiten

Publikum zu erschließen. Eine architek-

tonische Großskulptur mit fließenden

Raumfolgen ist die Basis des Erfolgs.

Nicht erst seit den Disney-Filmen sind die Grimms eine

populäre globale Marke – doch die wenigsten wissen auch

um ihre immense sprachwissenschaftliche Bedeutung.

kadawittfeld schufen aus dieser Diskrepanz ein im bes-

ten Sinne unterhaltsames Bauwerk, in dem die für die

Museumsinszenierung zuständigen Architekten Holzer Kobler

die perfekten räumlichen Strukturen vorfanden, um das

komplexe Werk der Grimms auch einem breiten Publikum

zu erschließen. Jacob und Wilhelm Grimm sind schließlich

nicht nur Märchenerzähler, sondern die Begründer der

Germanistik und legten mit dem Deutschen Wörterbuch auch

den Grundstein für die kulturelle Einigung einer damals noch

in Kleinstaaterei zersplitterten Nation.

Monolithischer Natursteinblock

Wer sich dem Ausstellungsgebäude von außen nähern

will, der hat gleich zwei Möglichkeiten. Die städtebaulich

interessantere führt von der Talseite hinauf auf den his-

torischen Weinberg, wo kadawittfeld ein brachliegendes

Villengrundstück mit einem monolithisch erscheinenden

Natursteinblock besetzten. Von außen wirkt er als eher

funktionslose, aber begehbare Großskulptur. Den Besuchern

bietet sich auf der Südseite des Gebäudes eine breite

Treppe an, über die sie auf die Dachterrasse des Museums

gelangen können. Und auf der Rückseite des Gebäudes geht

es über weitere Stufen wieder hinunter zum eigentlichen

Haupteingang. Diese doppelte Erschließung der Architektur

ist durchaus eine Analogie zum gleichfalls doppelten

Zugang ins Werk der Grimms. Im Inneren des Gebäudes

eröffnet die in Splitleveln gegliederte Raumlandschaft

den Ausstellungsmachern nun die Möglichkeit, beide

Werkzugänge miteinander zu verschränken, zu verweben

und so jedem Besucher zu verdeutlichen, dass die Grimms

eben viel mehr waren als die Verfasser von Schneewittchen.

Schon vom Eingang aus reicht der Blick durch die zentrale

Halle komplett hindurch auf ein großes Panoramafenster

und wieder hinaus in die Kasseler Hügellandschaft. Dort

forschten die Grimms mit Unterstützung des lokalen

Fürstenhauses rund 30 Jahre, schufen zentrale Teile ihres

Lebenswerks und wurden zum Stolz der Kasseler Bürger.

Dieser Stolz auf ein nicht erst seit der DOCUMENTA herr-

schendes kulturelles Klima in der Stadt führte 2011 zu einem

Architektenwettbewerb und 2015 schließlich zur Realisierung

der Grimmwelt.

Fließendes Raumkontinuum

Dass deren Mischung aus Populärkultur und Kultur­

wissenschaft hoch erfolgreich ist, das können die

Museumswärter bezeugen. Sie berichten von einer wah-

ren Besucherflut und davon, dass es mit Architektur und

Museumskonzept gelingt, das Werk der Grimms wirklich

für jeden Besucher zu erschließen. Die Kuratoren setzten

dabei nicht auf die allseits bekannten Figuren. Sie ver-

kniffen sich die Gestaltung einer populären Märchenwelt

und wählten den spröderen Weg. Denn die alphabetische

Ordnung des Grimm‘schen Wörterbuchs lieferte ihnen die

Grundthematik für die Ausstellung. Von A wie „Aerschlein“

bis Z wie „Zettel“ bewegen sich die Besucher nun durch das

Werk der Gebrüder. Ein fließendes Raumkontinuum bildet

hierfür die Basis. Gerade Wände sind die Ausnahme. Fast

alle Oberflächen sind einheitlich gestaltet. Der Besucher

wird durch die Dauerausstellung geführt, ohne auf räumliche

Widerstände zu stoßen. Mitmach-Elemente lassen es ihnen

trotzdem leicht werden, sich selbst als Teil der Grimm’schen

Märchen-Populärkultur zu begreifen – oder als Teil einer

sprachlichen Gemeinschaft. Denn die spielerisch aufgebaute

Ausstellung vermeidet es, auf platte Weise verspielt zu sein.

Die Grimmwelt liegt mitten im „Weinberg“, umgeben von viel Grün. Wein jedoch wird hier nicht mehr angebaut.