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STADTBIBLIOTHEK IN STUTTGART

Wenn der Architekt

Eun Young Yi auf die bauhistorischen

Vorbilder des von ihm entworfenen Bauwerks zu sprechen

kommt, spart er nicht an Superlativen: Das Pantheon in

Rom und die fantastischen Entwürfe des französischen

Revolutionsarchitekten Étienne-Louis Boullée – die Fran-

zösische Nationalbibliothek und der Newton Kenotaph –

standen Pate für Stuttgarts neue Bibliothek, in der sich

die Erfordernisse digitaler Wissensproduktion mit dem tradi-

tionellen Medium Buch zur Bibliothek des 21. Jahrhunderts

verbinden sollen.

Ein Blick auf die städtebauliche Situation macht deutlich,

dass hier, auf dem Baugebiet A1 des Projekts Stuttgart 21,

auch nur ein starkes architektonisches Zeichen die Kraft

besitzen würde, gegen die mächtigen, in direkter Umge-

bung emporwachsenden Büro- und Shoppingkomplexe zu

bestehen. Dem kubischen Bau mit über 40 Meter Kanten-

länge kommt die besondere Aufgabe zu, als zukünftiger

Mittelpunkt des neuen Quartiers eine weithin ausstrahlen-

de kulturelle Anziehungskraft zu entwickeln. Dass bei die-

sen ambitionierten Anforderungen keine bunte und spekta-

kuläre Eventarchitektur, sondern ein klarer und reduzierter

Gestaltungsansatz verwirklicht wurde, muss man den ver-

antwortlichen Planern hoch anrechnen. In diesem Haus

zählen innere Werte. Die streng gerasterte Fassade aus

Beton und Glasbausteinen lässt es von außen hermetisch

und in sich gekehrt erscheinen. Gelangt der Besucher je-

doch über einen der vier Eingänge in das Innere des Kubus,

offenbart sich ihm eine eindrucksvolle Raumvielfalt.

Die zentralen Bereiche der Stadtbibliothek bilden drei dif-

ferenziert gestaltete achsialsymmetrische Haupträume,

das Forum im Untergeschoss, ein als „Herz“ bezeichneter

kubischer Leerraum in der Eingangsebene und der Lese-

saal, der sich als invertierte Stufenpyramide vom fünften

bis zum neunten Geschoss erstreckt. Diese drei Volumen

repräsentieren die Ideale einer modernen Bibliothek: In-

formation, Kontemplation und Kommunikation. Sie unter-

streichen durch ihre Variationen des geometrischen

Grundthemas den kraftvollen und zeitlosen Anspruch

der Architektur.

Um diese zentralen Räume gruppieren sich die Funktions-

bereiche, um die sich wiederum ein Ring von Arbeits- und

Kommunikationsflächen legt. Die Grenzen sind fließend.

Sonderbereiche wie Cafeteria, Gruppenräume und die

Graphothek sind nur durch transparente Glaswände von

den übrigen Nutzungen getrennt. Diese konzentrische An-

ordnung der Funktionen findet in den umlaufenden Gale-

rien der inneren Fassadenebene ihren Abschluss. Hier bie-

tet sich den Bibliotheksnutzern die Möglichkeit, in direkter

Nähe ihrer Studienplätze einen Blick in die sich noch immer

beständig transformierende Umgebung zu werfen. Gleich-

zeitig bilden sie einen belebenden Kontrast zur monochro-

men Innenraumgestaltung, deren Grau- und Blautöne ledig-

lich durch die lebendige Farbigkeit der Bücher aufgelockert

werden. Eine effektvolle Kombination, die den Stellenwert

des physischen Informationsmediums Buch im Angesicht

von 200 computergestützten Arbeitsplätzen verdeutlicht.

Inmitten des chaotischen Stadterweiterungsgebiets hinter dem Stuttgarter Hauptbahn-

hof thront weithin sichtbar und durch ihre archaische Formensprache den Zeitläuften

scheinbar entrückt die neue Bibliothek der Landeshauptstadt. Für diesen Ort, an dem

sich traditionelle Medien und die digitale Welt begegnen sollen, entwarf der südkorea-

nische Architekt Eun Young Yi ein besonderes Gebäude mit klarer Formensprache.