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Zurzeit erlebt die Stadt als Wohn- und Arbeitsort eine
nie prognostizierte Renaissance. Noch vor wenigen
Jahrzehnten war daran nicht zu denken. Damals haben
die westlichen Städte in Besorgnis erregendem Maße
Einwohner und Arbeitsplätze an ihr Umland verloren. Noch
Mitte der 1990er-Jahre sprachen die Stadtforscher ange-
sichts massiver Suburbanisierungswellen von Stadtflucht
und prognostizierten gar eine Auflösung der Städte.
Heute hat sich dieses Bild radikal gewandelt: Die meisten
Menschen wollen oder müssen heutzutage in der Stadt
wohnen; der ländliche Raum verliert dagegen immer mehr
Einwohner. Wie passt das zusammen mit der oft proklamier-
ten „Landlust“ – nicht von ungefähr auch der Titel einer
Heile-Welt-Postille mit unglaublicher Auflagenstärke?
Landlust? Nur auf dem Lande!
Empirisch belegen lässt sich diese Sehnsucht zumindest in
keiner soziologischen Untersuchung. Selbst, wenn man die
Mediadaten des erfolgreichen Magazins genauer betrach-
tet, ergibt sich eine Divergenz: Demnach lebt die größte
Gruppe der Leserschaft, immerhin 41,5%, in Orten mit weni-
ger als 20.000 Einwohnern – also sozusagen schon fast auf
dem Land. Aus soziologischer Sicht lässt sich das durch
die postmoderne Transformation der Lebensverhältnisse
im Zeitalter der Globalisierung erklären – also durch
den demografischen Wandel und vor allem die enormen
Veränderungen in der Arbeitswelt: Wer beruflich erfolgreich
sein will, wer trotz aller dafür erforderlichen Flexibilität in
einer beständigen Partnerschaft leben möchte und später,
im Alter, eine gute Versorgung anstrebt, ist auf die Stadt als
Ort der Vielfältigkeit, Zentralität und Emanzipation angewie-
sen – postmoderne Lebensformen und Lebenszwänge erfor-
dern also das Leben in der Stadt.
Lebensmöglichkeiten
Wenn Soziologen von Lebensmöglichkeiten sprechen,
dann ist damit ein Prozess der Individualisierung gemeint.
Dieser Begriff kennzeichnet einen der wichtigsten Abläufe
im Wandel des Lebens unserer Zeit. Die Ursachen hierfür
LANDLUST ODER LANDFRUST?
sind vielfältig und betreffen vor allem den gesellschaftli-
chen Wertewandel, der in den späten 1960er-Jahren ein-
setzte. Seither geht der Trend zur Selbstbestimmung des
Individuums – und das immer radikaler. Gesellschaftliche
Grundmuster wie die klassische Kernfamilie zerfallen.
Lebensentwürfe werden immer vielfältiger und individueller.
Nicht von ungefähr sinkt die Geburtenrate.
Veränderungen in der Arbeitswelt
Ein entscheidender Grund für die immer geringer wer-
denden Möglichkeiten, auf dem Lande zu wohnen, sind
die Veränderungen in der Arbeitswelt. Entgrenzung
und Subjektivierung der Arbeit werden diese Prozesse
in der Soziologie genannt. Kernpunkt dieser Thematik
ist größtmögliche Flexibilität aufgrund zunehmender
Dynamik: Zeitliche Entgrenzung der Arbeit bedeutet, dass
der klassische Nine-to-Five-Job im Büro vermehrt der
Vergangenheit angehört. Arbeitszeiten sind nicht mehr an
Tages- und Nachtzeiten gebunden. Das beginnt bei der
Schichtarbeit und endet bei den immer üblicher werden-
den Arbeitsverhältnissen des externen, freien Mitarbeiters,
der sich seine Arbeitszeit größtenteils selbst einteilen
kann. Direkt davon betroffen ist auch die Art und Weise
der Zusammenarbeit, die soziale Entgrenzung der Arbeit –
Projektarbeiten finden zunehmend in wechselnden Teams
statt. Einen Schritt weiter geht die räumliche Entgrenzung:
Desktop-Sharing oder Homeoffice sind gegenwärtig viel
bemühte Anglizismen; auch das Arbeiten im virtuellen
Netzwerk wird immer populärer.
Der flexible Arbeitnehmer
Schnelles Internet ist dafür allerdings die Voraussetzung.
In vielen abgelegeneren Ortschaften ist vom Plan der
Bundesregierung, bis 2018 bundesweit flächendeckendes
Breitbandinternet zur Verfügung zu stellen, wenig zu spüren.
Eigener Anspruch und Wirklichkeit stimmen also zumindest
in Deutschland nicht überein. Der flexible Arbeitnehmer
richtet seinen Wohnort also nach den Arbeitsmöglichkeiten
aus – und tut dies oft sehr kurzfristig.
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