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PORTAL
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Mobilität und Multilokalität
Selbst Multilokalität – also das Leben an mehreren Orten
gleichzeitig – wird für immer mehr Menschen zur sozi-
alen Praxis. Sie hat inzwischen einen solchen Umfang
und solche Spezifik erlangt, dass in der sozialräumlichen
Forschung diese soziale Praxis der Lebensführung gleich-
berechtigt neben Migration und Pendeln gestellt wird.
Temporäre Wohnformen jeder Art werden allgegenwärtig,
die Anforderungen an Größe und Ausstattung der eigenen
Räume verändern sich. Viele Berufstätige gehen sogar
soweit, sich eines Wohnkonzeptes zu bedienen, das bis-
her nur mit Studenten und Auszubildenden in Verbindung
gebracht wurde: Aufgrund horrender Mieten in den
Ballungszentren ziehen sie in Wohngemeinschaften.
Wohnen in der Gemeinschaft
Die Idee, durch die Gemeinschaft ökonomischer zu
wohnen, wird immer populärer und zieht sich durch alle
Generationen: Lässt es der Mobilitätswahn zu, gründen
sich Baugemeinschaften. Mehrgenerationenhäuser oder
Alten-Wohngemeinschaften sind keine unbekannten
Wohnkonzepte mehr. Viele ältere Menschen entscheiden
sich für diese Art des Wohnens, da sie auf diese Weise
selbstbestimmt altern können. Auch sie profitieren von
der Infrastruktur der Stadt: Typisch ländliche Probleme
wie Ärztemangel oder weite Wege sind hier kein Thema.
In der Stadt bleiben auch Hochbetagte mobil – ein Auto
brauchen sie hier nicht. Eins haben viele Nutzer dieser
gemeinschaftlichen Wohnkonzepte, aber auch die her-
kömmlich Wohnenden gemeinsam: Der Wunsch nach
den urbanen Vorzügen ist stark ausgeprägt; neben einer
guten Verkehrsanbindung ist vor allem auch eine „grüne“
Umgebung gefragt.
Natur in der Großstadt
Von der proklamierten „Landlust“ kann indes keine Rede
sein. Sie ist lediglich ein Produkt findiger Marketingexperten.
Genau genommen hat die Natur längst Einzug in viele Städte
gehalten: Die Biodiversität in manchen Metropolen ist
Autor: Prof. Christine Hannemann
geboren 1960 in Berlin, DE
studierte Rechtswissenschaften und Soziologie in Leipzig und Berlin, bevor sie
1994 im Fachbereich Umwelt und Gesellschaft der Technischen Universität
Berlin promovierte und später an der Humboldt-Universität habilitierte. Seit
2001 leitet sie das Fachgebiet „Architektur- und Wohnsoziologie“ an der
Technischen Universität Stuttgart. Hannemann ist Mitglied der Akademie für
Raumforschung und Landesplanung Hannover, der Deutschen Gesellschaft
für Soziologie und der Sektion Stadt- und Regionalsoziologie sowie der
Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung.
teilweise ausgeprägter als zum Beispiel in landwirtschaft-
lich genutzten, monokulturellen Flächen auf dem Lande.
Mehr als 20.000 Tier- und Pflanzenarten teilen sich Berlins
Stadtlandschaft. Nur ein Grund hierfür ist ein Trend, der
sich in vielen Städten zunehmend durchsetzt: Urban- und
Guerilla-Gardening. Und nicht nur die Flora profitiert von
der Aktivität der Städter: Über 500 Hobby-Imker gibt es
mittlerweile alleine in der deutschen Hauptstadt – Tendenz:
steigend.
Reurbanisierung von innen
Hintergrund dieser Entwicklung ist ein gestiegenes ökolo-
gisches Bewusstsein der Städter. Es hat das Potenzial, zum
Leitbild künftiger Urbanisierungsprozesse zu werden. Auch
wenn die Idee der grünen Stadt bereits so alt ist wie die
Disziplin Stadtplanung selbst: Bisher waren Konzepte wie
die der Gartenstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur von
kurzer Dauer. Heute jedoch gibt es einen entscheidenden
Unterschied: Die grüne Stadt wächst von innen. Es handelt
sich nicht um ein übergestülptes, theoretisches Konstrukt. In
vielen Städten nehmen Stadtplaner den Ball nun auf.
„Lebenschancen“
Und das Land? Schon lange wird in der wissenschaft-
lichen Diskussion vor der Peripherisierung des ländli-
chen Raums gewarnt. Analysen zeigen, dass sich die
Lebensmöglichkeiten zwischen Stadt und Land immer
deutlicher unterscheiden, obwohl die Gleichwertigkeit
der Verhältnisse in allen Regionen Deutschlands sogar im
Grundgesetz festgeschrieben ist: Die Verkehrsanbindung
auf dem Land ist schlechter, die Bildungsmöglichkeiten sind
geringer, es fehlen Arbeitsmöglichkeiten für Akademiker und
ganz besonders für Akademikerinnen. Diese Liste ist lang
und wird immer länger. Trotz explodierender Mieten deutet
momentan nichts darauf hin, dass es zu einer Trendwende
und somit zu einer erneuten Suburbanisierung kommt. Im
Gegenteil: Die momentane gesellschaftliche und wirtschaft-
liche Entwicklung bedingt eine Urbanisierung geradezu. Die
Menschen werden geradezu in die Stadt hineingesogen.
Foto: Prof. Christine Hannemann
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