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„unrein“ (mahrime). Der Zigeunerpalast gehört im Weltbild

der Roma zur Kategorie des Reinen. Er ist ein Raum, der

durch den Alltag nicht beschmutzt werden soll – was unter

anderem auch das Fehlen der Sanitärräume erklärt. Selbst

mit diesem Wissen erschließt sich die Sinnhaftigkeit dieser

Art zu bauen den meisten Außenstehenden jedoch noch

nicht – ein Grund, warum die Gebäude bei einem Großteil

der Einheimischen auf Ablehnung stoßen.

Nutzen und Gestaltung

Die Frage nach dem „Warum“ ist also nach wie vor nicht

beantwortet. Roma wie die Kalderasch bauen offenbar

aus ganz anderen Gründen als der Großteil der Europäer.

Obwohl sie mit dem Bau der Häuser sesshaft scheinen,

sind sie es mitnichten. Reisen gehört nach wie vor zu ihrem

Lebenswandel. Über lange Zeiträume sind ganze Familien

in Europa unterwegs, um dann nur kurz in den prachtvollen

Häusern zu besonderen Anlässen zusammenzukommen

– meistens im Sommer. So findet zum Beispiel im Westen

Rumäniens, im Banat, zu dieser Zeit ein Großteil des Lebens

rund um die Gebäude in den Gärten statt. Die Straßen sind

dann voll von standesgemäßen – oder vielmehr repräsenta-

tiven Limousinen. Trotz dieser kurzen Zeit, die sie mit ihren

Häusern „aktiv“ verbringen, legen jene Roma viel Wert auf

die Gestaltung der Gebäude. Im Westen Rumäniens orientie-

ren sich die Entwürfe an den großbürgerlichen Häusern des

19. Jahrhunderts – freistehend mit Walmdach, opulentem

Eingangstor, vergoldetem Zaun und einer Sandstein- oder

Putzfassade. Im Süden hingegen sind die Bauten von regi-

onaltypischen Bauernhäusern beeinflusst: Sie sind durch

ihre Eckveranda, pagodenartig gestapelten Dächer, die

filigranen Dachornamente und die vielfach unterteilten

Farbfelder auf der Fassade gekennzeichnet. Ebenfalls nach

diesem asiatischen Vorbild gestaltet sind die Dächer der

Paläste in Siebenbürgen. Allerdings weisen die Grundrisse

hier Ähnlichkeiten zu den Gebäuden im Banat auf, die

neben einem symmetrischen Grundriss vor allem durch die

Ecktürme mit ihren Zwiebeldächern auffallen, wie sie die

unter Kaiserin Maria Theresia im 18. Jahrhundert errichte-

ten Kirchen ebenfalls tragen.

Das Haus als Institution

Diese Häuser haben mit der Urhütte im Sinne Marc-Antoine

Laugiers nichts mehr zu tun. Vielmehr sind sie vergleich-

bar mit Monumenten – Objekten, denen eine besondere

Bedeutung zugeschrieben wird, die aber keinen alltäglichen

Nutzen haben. Sie werden ausschließlich gebaut, um den

großen Ereignissen des Familienlebens gerecht zu werden.

Aufwendig verzierte Fassaden, pagodenartige Dachformen, detailreiche

verzierte Traufen – viele Romabauten sehen ähnlich aus. Die größte

Gemeinsamkeit ist die metallene Dachhaut. Monetären Wohlstand haben

die meisten Roma vor allem mit dem Metallhandel erreicht. In den Dächern

spiegelt sich nun auch ihr Sinn für den kunsthandwerklichen Umgang mit

dem Rohstoff wider. (vorherige Seite und links)

Alle Bilder von Carlo Gianferro, Rom, IT – veröffentlicht in „Gypsy Architecture“, herausgegeben

von Renata Calzi und Patrizio Corno, ISBN 978-3-936681-12-3, mit freundlicher Genehmigung der

Edition Axel Menges, Stuttgart, DE.